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Karl Hegel an Immanuel Hegel, Erlangen, 31. Januar 1869

Lieber Manuel!

Für Deine brüderlichen Wünsche zum Neuen Jahr und die sie begleitende Geldsendung sage ich Dir herzlichen Dank. Ich begreife, daß Du Dir selbst nicht genug thun kannst auf dem Dir speciell angewiesenen Gebiet Deines Wirkens, wo mit dem bloßen Einrichten und Organisiren an sich gewiß nur wenig ausgerichtet ist, wenn es an dem Geist fehlt, der die Formen beleben und ausfüllen soll. Die raschen Schöpfungen des verstorbenen Königs auf dem kirchlichen Gebiet scheinen nur unfruchtbare Experimente geblieben zu sein. Ich mochte wohl bestimmter von Dir hören, wie sich die neuen Kirchenvorstände und Kreissynoden im Leben gestaltet und bewährt haben, und woran es liegt, daß die Einberufung von Provinzialsynoden in den alten Provinzen noch immer auf sich warten läßt. Ist man des Fundaments noch nicht sicher genug, um weiter darauf fortzubauen? Doch wozu kann das bloße Zuwarten helfen? –Überrascht hat mich zu hören, daß Willi schon jetzt sein Abiturienexamen machen wird, weil ich dis erst zum Herbst erwartete. Ich kann es mit Dir fühlen, wie schwer es Dir wird, den Sohn aus dem Hause zu entlassen und seiner eigenen Führung anzuvertrauen. Indessen hoffe auch ich bei der guten Grundlage seines Charakters und rechtschaffenem Streben seines Willens, daß er vor einem eitlen und leichtsinnigen Treiben und sittlichen Verirrungen bewahrt bleiben wird. Ganz stimme ich Dir auch darin bei, daß Du ihn für die erste Zeit auf einer auswärtigen Universität studieren lassen willst, damit er auf eigenen Füßen stehen lernt und sich noch anderswo in der Welt umsehe und an fremde deutsche Art gewöhne. Darum denkst Du gewiß mit Recht noch mehr an eine süddeutsche Universität, als an eine andere norddeutsche, und zwar an Tübingen, welches sich besonders durch seine reiche Naturschönheit im Neckarthal empfiehlt, wo das ganz eigenartige schwäbische Volksthum am meisten absticht und das Leben nicht theuer sein soll. In Tübingen lehrt Brinz das Römische Recht, der früher mein College hier in Erlangen war und dann nach Prag berufen worden ist und in Wien eine bedeutende politische Rolle auf dem Reichstag durchgeführt hat.1 In Würtemberg gilt er viel als Großdeutscher; daneben ist er Katholik, aus dem bayrischen Allgäu gebürtig; ein Gemüthsmensch durch und durch, der gewiß die Jugend zu erwärmen versteht, wenn er nicht etwa die norddeutsche durch seine preußischen Antipathien abstößt. Sehr anziehend und wirkungsvoll sind gewiß auch die Vorträge des Ästhetikers Vischer, den man im vergangenen Jahre nach München berufen wollte, auch er ein Großdeutscher. Um so preußischer ist der andere Jurist, Römer, das politische Parteihaupt der Nationalliberalen in Würtemberg, ein Mann von großer Energie und für jede andere als die schwäbische Art, welche daran gewöhnt ist, von unglaublicher Rücksichtslosigkeit in Gesprächen und Aussprachen; ich lernte ihn bei dem Jubiläum in Bonn kennen2 und fand mich sehr angezogen von ihm. Ein tüchtiger Nationalökonom ist wohl nicht da, so viel ich weiß, da die Stelle des nach Wien berufenen großdeutschen Würtembergers Schäffle entweder noch nicht besetzt ist, oder durch einen ebenso gesinnten jungen Schwaben, nur auf Hoffnung künftiger Lehrgabe und wissenschaftlicher Leistungen, schon besetzt worden ist. Mein früherer Specialcollege und Freund Weizsäcker, ein gutpreußischer Schwabe gleichfalls von hervorragender Energie, wie Römer, vertritt das Fach der Geschichte. Dies wären im Ganzen recht gute Constellationen für Willis Anfangsstudien in Tübingen.

Am nächsten jedoch lag mir der Gedanke, ob ich Dir nicht anrathen sollte, Deinen Sohn hierher zu uns zu schicken. Für den ersten Übergang zur studentischen Freiheit scheint doch immerhin die Anlehnung des jungen Mannes an ein nah verwandtes Familienhaus sehr viel für sich zu haben. Wir würden den Neffen und Vetter mit Freuden bei uns begrüßen und an fröhlicher Unterhaltung würde es ihm bei der jungen Welt, in der unser Annchen jetzt einen, wie es scheint, besonders anregenden und darum viel begehrten Mittelpunkt bildet, nicht fehlen. Dies würde ihn vielleicht abhalten in das studentische Verbindungswesen einzutreten, welches neben gewiß nicht abzuleugnenden Vorzügen in Ansehung der Characterbildung doch auf der andern Seite zu viel von bloß äußerlichem burschikosen Treiben, wie Biertrinken und dergleichen an sich hat und was das Schlimmste ist, für das eigentliche Studieren wenig oder gar keine Zeit übrig läßt. Für Willi kommt noch hinzu, daß es gewiß einen besonderen Reiz für ihn haben wird, unseren Verwandtenkreis in Nürnberg näher kennen zu lernen und Nürnberg selbst, von dem er so viel gehört hat! In Ansehung der Vorlesungen, die sich für ihn eignen, können wir allerdings im nächsten Semester nicht besonders Vieles und Bedeutendes bieten, aber wohl doch genug, um als gute Anleitung für das juristische Studium zu dienen. Scheurl liest Institutionen3; leider wird Stintzing, wie ich höre, nicht lesen, da er ein Semester auf Urlaub fortgehen will, er hat römische Rechtsgeschichte angezeigt; vielleicht wäre Deutsche Rechts- und Reichsgeschichte bei Gengler zusagend. Makowiczka ist ein tüchtiger Nationalökonom und hat einen klaren verständlichen Vortrag; er liest freilich nicht Nationalökonomie im nächsten Semester, sondern Volkswirtschaftspolitik, den angewandten Theil, und Polizeiwissenschaft. Ich lese ein Publicum4 über Dante, 1 stündig, das Willi interessiren könnte, Raumer über das Nibelungenlied usw. Ich glaube hiernach, daß Willi immerhin ein Sommersemester bei uns angemessen und nützlich verbringen könnte. Ich denke, daß Du ihn etwa drei Semester hindurch auswärts willst studieren lassen. Für die beiden andern Semester würde ich keine Universität lieber als Göttingen vorschlagen. Die Umgebung ist anmuthig, reich an schönen Parthien in einiger Ferne. Der Aufenthalt wird, denke ich, weit weniger theuer sein als in Bonn. Göttingen steht in dem guten Ruf, daß dort am meisten studiert und gelernt wird, und wenn Willi nur drei Jahre auf der Universität studieren sollte, so muß er seine Zeit zusammennehmen und darf nicht das volle erste Jahr, wie es bei uns Sitte ist, bloß verbummeln. Göttingen hat vortreffliche Lehrkräfte aufzuweisen, unter den Juristen Franke und meinen alten Freund Thöl. Der studentische Unfug der Corps soll freilich auch dort floriren, doch ist diese Gefahr nirgends auf einer kleineren oder mittleren Universität zu vermeiden.

Hier hast Du einige Anhaltspunkte; wenn Du noch über die eine oder andre Universität Näheres zu wissen wünschst, so stehe ich gern zu Diensten. Übrigens wirst Du innerhalb gewisser Grenzen gewiß Willi selbst gern freie Wahl lassen. Zieht es ihn z. B. wegen besserer Kameradschaft mehr nach Tübingen als zu uns, so wäre ja dagegen nichts einzuwenden und würden wir uns in diesem Fall mit seinem Ferienbesuch begnügen müssen. So oder so soll er uns herzlich willkommen sein.

Von Rosenkranz habe ich auf meine Zuschrift und Zusendung der Briefe Antwort erhalten.5 Er hat den Brief dictiren müssen, weil er seine Augen nicht gebrauchen kann; dennoch schreibt er an dem angekündigten Buch, welches er bereits begonnen hatte, ehe die buchhändlerische Aufforderung an ihn gelangte. Da Du die Anzeige vielleicht nicht selbst gesehen hast, schicke ich sie Dir in der Anlage.6 Auf meine Vorstellung dagegen und meinen Wunsch, daß er für den bestimmten Zweck und ein weiteres Publicum die Biographie neu bearbeiten möge, wobei ihm auch die über- sandten ungedruckten Briefe dienlich sein könnten, antwortete er, daß seine Biographie ein „wirkliches historisches Kunstwerk“ sei, welches keine Änderung zulasse.7 So habe ich sie freilich bisher nicht gewürdigt und ich sehe wohl, daß da nichts weiter zu machen ist, bedaure aber beinahe, daß ich ihm die Briefe überlassen habe, die er nun anderweitig verwenden will. Ich fürchte, daß das neue Buch reich sein wird an falscher Rufminderei, was unnöthiger Weise den Widerspruch hervorruft. Es würde aber sicher nichts helfen, wenn Du etwa noch durch Hotho auf ihn einzuwirken versuchen wolltest, und könnte das vielleicht nur ihm und uns Verdruß bereiten. Dann lass‘ es lieber.

Von der Berlin Potsdamer Eisenbahn habe ich neulich in der Nationalzeitung gelesen, daß auch dise Gesellschaft einen neuen Bau beginnen und neue Actien, mit Bevorzugung der alten Actieninhaber, darauf ausgeben will. Dies nöthigt wieder zu einer weiteren Geldanlage dieser Art, die ich gern vermieden hätte, nun aber doch wohl kaum vorbeilassen kann, um nicht an den alten Actien bloß zu verlieren. Einen bestimmteren Plan über die neue Actienausgabe, Verhältniß der Zahl zu den alten und Termin und Betrag der Einzahlung habe ich noch nicht gefunden; vielleicht kannst Du mir hierüber Auskunft verschaffen.

Meine Frau ist im Begriff an Clara zu schreiben und hat gewiß viel von unserem häuslichen und geselligen Leben mitzutheilen.

Ich will nicht darauf warten und grüße Deine liebe Frau und Kinder von Herzen, mit der vorläufigen Versicherung, daß wir uns Alle wohl befinden.

In brüderlicher Liebe
Dein Karl Hegel.