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Karl Hegel an Immanuel Hegel, Erlangen, 21. März 1869

Lieber Manuel!

Wir waren heute Nachmittag, also am Frühlingsanfang, in ganzer Familie zum ersten Mal wieder auf dem Rathsberg; es blies ein frischer Wind von den Bergen her, die sich in malerischer Beleuchtung zeigten. Schon lange treiben die grünen Blätter aus den Sträuchern, bald durch warme und sonnige Tage gefördert, bald wieder durch nächtlichen Frost zurückgehalten. Die Ferien haben begonnen, mir dies Mal doppelt erwünscht, da ich seit vergangenem November durch zwei Vorlesungen, von welchen ich die eine zur Hälfte erst ausarbeiten mußte, sehr angespannt und an meinen literarischen Arbeiten gänzlich verhindert war. Der Geburtstag2 meiner guten Susanna wurde mit dem Besuch der lieben Eltern und der jüngeren Familie Crailsheim bei uns gefeiert. Gottlob befinden wir uns Alle in gutem Wohlsein, auch der kleine Gottlieb, der erst seine Anfänge mit Laufen macht und mit dem Sprechen es noch nicht weiter als bis zu dem Wort „Papa“ gebracht hat. Der Eintritt der Ferien macht auch für unsere Geselligkeit einen gewissen Abschluß, die in der letzten Zeit besonders während des Carneval sehr belebt war.

Unser Annchen genießt ihre schöne heitere Jugendzeit in vollen Zügen und erfreut uns durch ihre lebensvolle Frische. Durch die schöne Gabe des Gesangs, die sich noch mehr vervollkommnet hat, hat sie auch in weiteren Kreisen Freude bereitet; mehrere Mal hat sie sich in öffentlichen Aufführungen des akademischen Gesangsvereins hören lassen. Von unserem Luischen in Friedrichsdorf hören wir gleichfalls nur Gutes und Erfreuliches. Wir haben sie zum Osterfest nicht zu uns kommen lassen, dafür hat sie eine Einladung zu einer Freundin von der Familie Grünewald in Frankfurt erhalten, der sie gern gefolgt ist. Unsere Marie wird am weißen Sonntag3 eingesegnet: sie ist eine tüchtige und in sich wohlbegründete Natur, gewissenhaft und charakterfest, noch wenig mittheilsam, aber voller guter Einfälle.

Georg ist ein gutmüthiger, aber leichtsinniger und zerstreuter Bursche, der mit Strenge angepackt und zum nöthigen Lernen angehalten sein will; in der Klasse ist er leider in der Regel einer der letzten. Sophie’chen lernt um so fleißiger und überrascht durch ihre Gewandtheit und geistige Anlagen.

Von Mundels Lernen läßt sich noch nicht viel sagen. Doch bleibt er nicht zurück und ist noch immer ein liebenswürdiges fröhliches Kind. Ungleich sind die Gaben unter unseren Kindern ausgetheilt, aber ein gewisser guter Grundzug des Characters geht bei Allen als hervorstehend durch und läßt keine ernstliche Sorge wegen ihrer Zukunft aufkommen.

Deine Nachricht von dem unglücklichen Ausgang der Prüfung von Willi kam uns freilich sehr unerwartet und hat uns nicht weniger betrübt. Nach Allem was ich sonst von Willi gehört, muß ich glauben, daß er durchaus die geistige Reife der allgemeinen Bildung wie des Characters besitzt, um zu dem Universitätsstudium überzugehen, und doch fehlte es ihm nun an dem erforderlichen Maß des Wissens, womit es freilich auf den preußischen Gymnasien strenger genommen wird als hier bei uns. Sein Mißgeschick wird ihm gewiß, wie Du schreibst, zu einer heilsamen Lehre für die Zukunft gereichen, daß er es auch ernster mit seiner eigentlichen Aufgabe nimmt und sich nicht durch andere Lieblingsneigungen, wenn auch an sich durchaus lobenswerth, davon abziehen läßt. Darum wird das kurze Semester, welches er noch auf der Schulbank zuzubringen hat, für ihn gewiß nicht verloren sein; er wird das Versäumte mehr als einbringen und nachher um so bestimmter wissen, um was es sich weiter für ihn handelt.

An unserer Universität findet allerlei Wechsel statt. Der Physiker Beetz ist schon im vorigen Herbst an das Polytechnicum in München übergegangen; er und seine Frau waren echte Berliner mit den guten und schlimmen Eigenschaften. An seine Stelle ist einer gekommen, der das Glück hat ein Bayer, nämlich ein Pfälzer zu sein, Lommel; übrigens scheint er tüchtig zu sein. Der Botaniker Schnitzlein und der Zoolog Will sind gestorben; mit der Familie des ersteren verkehren unsere Kinder. Seine Stelle wird ersetzt durch einen anderen Bayern, Kraus, außerordentlicher Professor in Leipzig, der erst kommen soll; die andre ist noch unbesetzt, ebenso die des Philologen Keil, der zu Ostern nach Halle kommt. An diesem verlieren wir sehr ungern einen tüchtigen Collegen, dessen Familie uns gleichfalls nahe stand; er kehrt mit seiner Frau, eine geborene Eckstein, in seine frühere Heimat zurück, wo er einen befriedigenderen Wirkungskreis als an unserer Kneipuniversität finden wird.

In Leipzig wird jetzt ein Romanist gesucht, Windscheid in München hat abgelehnt, obwohl er kein Süddeutscher ist; München ist ein Ort, der Jedermann fesselt, trotz seines schlechten Wassers und des Typhus; wir besorgen, daß man an unseren Stintzing denkt, den wir am allerwenigsten verlieren möchten.

Meine Frau und Anna sind durch die von Euch erhaltenen Briefe erfreut worden und grüßen einstweilen bestens; ich grüße gleichfalls Frau und Kinder von Herzen, nämlich die Deinigen. Möge es Dir und ihnen wohl gehen!

Dein
Bruder Karl.