Du wirst Dich gegenwärtig des schönen Wetters und noch mehr der Muße in der Sommerfrische erfreuen, zu Fuß die schönen Harzthäler durchstreifen oder in dem gräflichen Park umherspazieren, mit Clara und den Kindern ein schattiges Plätzchen für die gemeinsame Lectüre aufsuchen. Wie sehr hast Du solches kurzes Ausruhen nach einem arbeits- und sorgenvollen Jahr verdient! Möge es Dir und den Deinigen zu recht gründlicher und nachhaltiger Erholung gereichen!
Ich danke Dir für die Sendung meines Zinsenertrages, den ich mir als Reisegeld zurücklege; ich sehne mich herzlich danach, davon Gebrauch zu machen.
Schellings Leben1, welches ich Dir nach Deinem Wunsche überschicke, wird Dich gewiß ansprechen, wenigstens in dem ersten Theil der gut geschriebenen Biographie, den ich allein durchgelesen habe. Selten ist wohl ein Mensch so früh gereift und so bald fertig geworden, um dann für seine ganze spätere Lebenszeit nur stehen zu bleiben! Wie werthvoll die von uns mitgetheilten Briefe besonders für die Entwicklungszeit dem Herausgeber erscheinen mußten, ist leicht zu sehen.
Wir lesen gegenwärtig in der letzten Abendstunde nach dem Essen den Hermann Stark2 von Oskar Redwitz. Das wäre auch etwas für Eure Erholungslectüre, wiewohl der Roman bisweilen sehr ins Breite geht, so daß er die Abbreviatur durch Überschlagen der Seiten oder Blätter vortrefflich verträgt, ohne daß man etwas vom Ganzen verliert. Da wir noch nicht zu Ende sind, so suspendire ich noch mein Urtheil. Im Einzelnen finde ich manches Anziehende, aber durchaus nichts Bedeutendes oder Hervorragendes.
Die Broschure von Schirren, welche diesen um sein Amt und seine Heimat gebracht hat, über das Recht der Ostseeprovinzen3, hast Du wohl schon gelesen; sonst würde ich Dir auch diese empfehlen.
Auf meinem speciellen historischen Gebiet ist Ranke’s Wallenstein4 eine bedeutende Erscheinung, worin noch manche dunkle Punkte in der Wallenstein‘schen Katastrophe aufgehellt worden sind. Das Buch wird Dich gleichfalls sehr fesseln, wenn Du es liesest. Und noch manches Andere, was mir in der letzten Zeit durch die Hände gegangen ist, könnte ich Dir nennen. Die gräfliche Bibliothek in Wernigerode wird Dir, mehr als Du begehrst, bieten; ich weiß, daß sie auch gute alte Handschriften enthält, nach denen ich mich vor einiger Zeit bei dem dortigen Bibliothekar erkundigte.
Den Plan, den Du mit Willi besprochen, daß er im ersten Militärjahr seinen Militärdienst zu Göttingen abmachen solle, kann ich nur gutheißen, da er nun keine Zeit mehr zu versäumen hat. Heiterer und erfrischender wäre es freilich für ihn gewesen, wenn er vorher diesen Sommer hier bei uns hätte zubringen können.
Auch Maries Besuch, auf den sich Alles bei uns gefreut hat, ist nun, wie es scheint, doch sehr zweifelhaft geworden. Als ich Dir zuletzt schrieb, machte ich Ambiuationen5, die nicht mehr zutreffend sind. Gottliebs6 gehen nach Schliersee, sobald der Onkel von Ems zurückkommt, sind also weder in München noch in Simmelsdorf zu besuchen. Ob unsere Eltern nach Simmelsdorf gehen, wenn sie von München zurückkommen, ist sehr zweifelhaft, da der Vater von dort aus, wenn die Taufe bei Luise vorüber sein wird (das Kind soll aber erst noch geboren werden!), noch die Brennerbahn besuchen will und sich vielleicht in Tirol aufhalten wird. Das schöne Simmelsdorf ist wie ein verzaubertes Schloß, seitdem die erhabene Freiherrliche von Tucherische Stiftung ihre – ich will nicht sagen, mißgünstige – Hand darauf gelegt hat. Man hat sich durch peinliche Bestimmungen, wie z. B. die Zahlung eines Tributs von 6 Kreuzer täglich pro Kopf für alle Nutznießenden, den Genuß so bittersüß gemacht, daß der schöne Ort nur wenig mehr aufgesucht wird. Der Vater scheut sich gleichfalls, wie ich vermuthe, davor, wenn er hingeht, von einem Schwarm von Kindern und deren Familien und anderen Besuchern überfallen zu werden, weil denn Alles auf einmal dort sein will, was sonst für sich nicht gehen darf. So abstrahiren auch wir unseren Theils gänzlich von Simmelsdorf, und Marie würde es schwerlich zu sehen bekommen. Im Ganzen kann ich Dir unter den gegebenen Umständen daher nur beipflichten, daß Mariens Besuch im gegenwärtigen Jahr ihr nicht mehr so viel zu bieten verspricht, wie vielleicht das künftige, wenngleich sich auch über dieses noch gar nichts vorhersagen läßt, denn wie Manches kann sich bis dahin verändern.
Anna legt einen Brief7 bei. Ich grüße von Herzen Clara und die Kinder, und auch Frau Radeke, die sich meiner gewiß erinnert von unserer gemeinschaftlichen Reise her.8 Wie geht es ihr? Sie war so viel leidend, daß man ihr keine so lange Lebensdauer versprochen hätte! Auch Susanna grüßt innigst.