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Karl Hegel an Immanuel Hegel, Erlangen, 26. Mai 1870

Lieber Manuel!

Auf die uns so sehr erfreuende Nachricht von dem nahe bevorstehenden Besuch Deiner Tochter hätten wir schon früher antworten und uns nicht dabei beruhigen sollen, daß Anna von Fürth aus an sie selbst geschrieben. Ich wartete auf den neuen Fahrplan, der am 1. Juni in Kraft treten soll; da die neue Bahn nach München über Ingolstadt eröffnet ist, werden auch die von Norden herankommenden Züge wahrscheinlich eine Veränderung erfahren. Doch nun vor Allem sei Euch, Dir und der lieben Clara, herzlich gedankt, daß Ihr uns Eure liebe Marie auf eine Zeit überlassen wollet, damit wir uns an ihr erfreuen und sie sich mit uns in unserer kleinen Universitätsstadt einlebe. Sie wird hier doch Manches finden in Personen und Zuständen, das ihr neu und auch anziehend erscheinen kann. Und dann in Nürnberg und München – wie viel giebt es dort zu sehen und zu erleben!

In Nürnberg wird die Schwester Luise Löffelholz aus München mit zwei Kindern bei den Eltern zum Besuch erwartet; Marie wird sie schon antreffen. Von den andern Geschwistern sind Caroline und Sophie da. Bei der ersteren war gestern Nachmittag die Taufe ihres zweiten Söhnchens, Ulrich wie sein Vater, genannt. Ich war drüben allein, weil meine Frau verhindert war; Pfarrer Port hielt die Taufrede und der Verwandtenkreis war beim Caffe beisammen in der kleinen Wohnung im Hinterhause am Egidienplatz, welche früher die guten Großeltern Grundherr inne hatten. Unser Annchen ist wieder von Fürth zurück, nachdem der Arzt, an den sie von Tröltsch gewiesen, die Kur für beendigt erklärt hat. Diese hat sie ziemlich angegriffen und besonders schmerzlich ist vorläufig die Enttäuschung, daß wenigstens für jetzt noch keine Besserung zu verspüren ist. Es ist recht schwer für sie und für uns, daß dieses Leiden ihr aufliegt und auf den ganzen ferneren Lebensweg mitgegeben ist, vielleicht ihr Lebensglück zerstört! Doch trägt sie es mit Fassung, wenn auch ihre sonst gewohnte Frische und Heiterkeit bisweilen dadurch getrübt ist. Recht willkommen ist uns besonders um ihretwillen der Besuch der lieben Marie, der sie zerstreuen wird und ihr gewiß auch sonst wohl thun wird.

Marie schrieb, daß sie am 2. Juni von Berlin abreisen werde. Nach dem bisherigen Fahrplan würde sie nicht in einem Tage bis hierher kommen können, da der Zug, der um 8 Uhr Morgens von Berlin abgeht und Mittags um 12.30 Uhr Leipzig, Abends 6 Uhr Hof verläßt, nur bis Bamberg Nachts 11 Uhr gelangt, dort aber liegen bleibt. Es wäre daher der von Berlin um 10 ½ Uhr Nachts abgehende Zug vorzuziehen, auch weil er zur Nachtzeit die langweilige Strecke bis Leipzig zurücklegt, dann von dort um 6 ½ Uhr Morgens, von Hof um 10.40 Uhr abgeht und hier in Erlangen um 3.31 Uhr Nachmittags eintrifft. Doch so viel ich bis jetzt erfahren, werden diese Züge vom 1. Juni ab in etwas geändert sein, und ich will Euch sofort davon benachrichtigen, so wie der neue Fahrplan, der täglich erwartet wird, heraus ist.

Ich danke Dir für die Zusendung der Berichte des Bibelvereins, des Evangelischen Vereins, der Synodalversendungen und der beiden Exemplare des Neuen Testaments, welche mir Schmidtlein überbrachte. Ich habe die Berichte mit vielem Interesse gelesen und daraus erfahren, in eine wie weit verzweigte, menschlich und christlich fördernde Thätigkeit Du einzugreifen hast. Die Synodalversendungen haben mir gleichfalls die Fragen näher gebracht, welche das Kirchenregiment gegenwärtig beschäftigen. Das Neue Testament macht in Druck und Papier einen sehr angenehmen Eindruck; wie viel Mühe und Arbeit in dieser Edition sonst steckt, sieht man ihm freilich nicht an, und besteht darin ja gerade ihr bestes Lob, daß das Zuthun und Wegthun sich nur für den Kenner kenntlich macht. Ich habe das andere Exemplar meinem Collegen Thomasius übergeben, der sehr erfreut darüber war.

Mit großer Genugthuung habe ich den glücklichen Abschluß wie des letzten Zollparlaments, so nun auch den des Reichstags begrüßt.2 Bismark hat sich um letzteren durch sein entschiedenes Wort abermals ein großes Verdienst erworben. Doch beweist auch dieser Vorgang aufs neue, welche Kraft und Wucht der Persönlichkeit einzusetzen nöthig ist, um der politischen Vernunft gegenüber der Unvernunft, Feindschaft, Rechthaberei oder gar Bosheit Geltung zu verschaffen. Bei uns in Bayern macht sich zur Zeit allein die Unvernunft, reine Bornirtheit und Leidenschaft auf eine mehr ergötzliche als ärgerliche oder schädliche Weise breit; denn dieses Treiben ist durchaus unfruchtbar und unfähig irgend etwas im Guten oder im Schlimmen zu Stande zu bringen. Seit 1848 hat man einen solchen Unfug und Unverstand wohl in keiner deutschen Kammer mehr gesehen! –

Auf die Einladung der lieben Klara zum Hegelfest3 zu Euch zu kommen, sind wir mit Freude bereit, unser Kommen vorläufig zuzusagen; doch wollen wir dies erst später noch näher ins Auge fassen. Daß ich dabei sein will, versteht sich freilich von selbst.

Erwarte also in den nächsten Tagen noch nähere Nachricht über die veränderten Züge unseres Fahrplans.

Herzliche Grüße an Klara, Marie und Clärchen.

Treulichst
Dein Karl.