Die ungeheure politische Bewegung1 der Gegenwart hat die Säcularfeier Hegels2 in den Hintergrund gedrängt3; aber das Interesse an seiner Philosophie wird mit der Feier nur um so triftiger sich erneuern. Ich habe auch für die philosophische Bibliothek, die Herr von Kirchmann herausgibt, eine neue Ausgabe der Encyklopädie Hegels mit einer Einleitung und Erläuterungen, zur Säcularfeier, veranstaltet.4 Die Feier aber ist dazwischen gekommen und wird die Ausgabe der Erläuterungen bis Ende October vorläufig verschoben bleiben. Auch Ihr Briefwechsel Hegels ist nicht ins Licht getreten. Vielleicht wollen Sie | erst den dritten Band des Schellingschen abwarten. Werden Sie nicht der Vollständigkeit wegen, auch die schon gedruckten Briefe Hegels aufnehmen?
Weshalb ich nun eigentlich schreibe, ist, Ihnen mitzutheilen, daß von sehr verschiedenen Seiten, unter Anderen, von ProfessorKöstlin in Tübingen, der Wunsch an mich gelegt ist, Hegels Schrift über die VerfassungDeutschlands5, von der ich in seinem Leben ein Auszug gegeben, vollständig drucken zu lassen. Sie werden jetzt ein hohes Interessen haben. Da ich mir Augen halber6– zu solcher Arbeit nicht mehr tauge, so hab ich geantwortet, daß ich Ihnen das Verborgene mittheilen würde, wie hier auch geschieht. Überhaupt wird der Wunsch, | von Hegels früheren Arbeiten die wichtigsten dem Druck übergeben zu sehen, immer lauter. Stirling in Edinburgh drang sogar einmal in mich, Hegels ursprüngliches System der Logik7 drucken zu lassen.
Waren Sie zum 27. August in Berlin? Ich kann leider so weite Reisen nicht mehr unternehmen und mich in kein festliches Getümmel wagen, da ich nach Außen zu unsicher und unselbständig bin. Ich gehe in keine Gesellschaft mehr. Am schmerzlichsten wird mir, daß ich den Besuch des Theaters meiden muß. Doch fort mit diesen Gedanken, da mir keine8 freudige Privatexistenz. Ich lebe jetzt, da ich so viel müßig gehen muß, die Zeitgeschichte in ihrer ganzen Breite mit durch. Jetzt | hat sich Frankreich zum dritten Mal als Republik erklärt.9 Am 9. Mai erklärte es sich im Plebiscit noch für gut kaiserlich. Was wird nun werden? Für die Oesterreicher, die erst Bonaparte, dann jetzt der Republik ihren Degen gegen uns angeboten haben, nur um sich der grande nation als nicht französisch anzuschmeicheln, habe ich gar keine Sympathie. Ich würde den Franzosen das Vergnügen, sich im Innern umzugestalten, wie es ihnen beliebt, überlassen.
Leben Sie wohl, lieber Hegel!
In treuer Anhänglichkeit
Ihr ergebenster Rosenkranz.
P. S.Hörte ich doch endlich, daß Straßburg und Metz über sind. Das Schicksal dieser Städte bedrückt mich wie ein Alp und läßt mich auch oft kaum ein schlafen.
1Deutsch-Französischer Krieg, dessen Resultat die Deutsche Einheit als Nationalstaat unter preußischer Führung in Form des Deutschen Kaiserreiches war. 2Jubiläumsfeier anlässlich des 100. Geburtstages des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831). 3Die Jubiläumsfeier wurde aufgrund des Krieges mit Frankreich 1870 auf das Folgejahr verschoben und fand in Berlin am 3. Juni 1871 statt; vgl. dazu Neuhaus, Karl Hegels Gedenkbuch, S. 205. 4Die „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“ wurde von dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel 1817 erstmals herausgegeben; anlässlich des Jubiläums erschienen 1870 in Berlin von dem Philosophen Karl Rosenkranz (1805-1879) die „Erläuterungen zu Hegels Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften“. 5Dies bezieht sich auf die bis dahin unveröffentlichte „Kritik der Verfassung Deutschlands“ von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, deren Manuskript um 1800/02 entstand. 6Zu dem Augenleiden Rosenkranz’ vgl. auch das Fragment: Brief 18690100_017Die „Wissenschaft der Logik“ erschien als Schrift des Philosophen Hegel in der Zeit zwischen 1812 und 1816 zunächst in Nürnberg, wo er damals wirkte, und gilt als dessen philosophisches Hauptwerk. 8Unsichere Lesart. 9Am 4. September 1870, unmittelbar nach der Niederlage der französischen Armee in der Schlacht von Sedan, wurde in Paris zum dritten Mal die Republik ausgerufen.
Rosenkranz, Johann Karl FriedrichKarl Rosenkranz11860272118051879 Rosenkranz, Johann Karl Friedrich (1805–1879), in Magdeburg geborener Philosoph und Sohn des Steuerbeamten Johann Heinrich Rosenkranz (1757–1830) und seiner Ehefrau Marie-Katharine Rosenkranz, geb. Gruson (1770–1824). Er war von 1831 bis 1833 außerordentlicher Professor an der Universität Halle, von 1833 bis 1874 ordentliche Professor an der Universität Königsberg und Verfasser der ersten Biographie Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831).
Hegel, KarlKarl Hegel
HiKo
11657075X
Königsberg54.70464845,20.456566646621738Residenzstadt des Herzogtums, dann Königreichs Preußen, am Pregel gelegen, seit 1824 Sitz der Oberpräsidenten der Provinz Preußen.
Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz (StBPK), Berlin
NL Hegel 15, Fasz. IV, 3.
SBPK Berlin1000
Neuhaus
, Helmut (Hg.): Karl Hegels Gedenkbuch. Lebenschronik eines Gelehrten des 19. Jahrhunderts, Köln, Weimar, Wien 2013.
Neuhaus
, Karl Hegels Gedenkbuch
2013
Hegel, Georg Wilhelm FriedrichGeorg Wilhelm Friedrich Hegel https://www.deutsche-biographie.de/sfz28648.html#ndbcontent11854773917701831 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–1831), Philosoph, Ehemann Maria Helena Susanna Hegels, geb. Tucher (1791–1855), Vater Karl und Immanuel Hegels , von 1808 bis 1816 Gymnasialrektor und Schulrat in Nürnberg, ordentlicher Universitätsprofessor für Philosophie von 1816 bis 1818 an der Universität Heidelberg und von 1818 bis 1831 an der Universität Berlin.
Kirchmann, Julius Hermann11884172618021884Kirchmann, Julius Hermann (1802–1884), aus der Nähe von Merseburg stammender Jurist, Philosoph und Politiker, der nach seinem Studium an den Universitäten Leipzig und Halle beruflich in den Justizdienst ging. Für die Fortschrittspartei war er von 1871 bis 1877 Mitglied des Deutschen Reichstages.
Köstlin, Karl ReinholdKarl Reinhold Köstlin11630166X18191894Köstlin, Karl Reinhold (1819–1894), im schwäbischen Urach geborener evangelischer Theologe und Literaturhistoriker, der von 1837 bis 1841 an der Universität Tübingen studierte und anschließend in den Kirchendienst eintrat. Im Jahre 1849 zum Dr. phil. promoviert, wurde er Privatdozent und 1853 außerordentlicher Professor an der Universität Tübingen. 1858 übernahm er den Lehrstuhl für Ästhetik und Kunstgeschichte in der Philosophischen Fakultät und wurde 1863 Ordinarius, im Jahre 1877 war er Dekan.
Stirling, James HutchisonJames Hutchison Sterling11555896918201909Stirling, James Hutchison (1820–1909), war ein schottischer Chirurg und Philosoph, der sich intensiv mit dem Werk des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) beschäftigte und darüber auch das umfangreiche Werk „The Secret of Hegel“ im Jahr 1865 in zwei Bänden veröffentlichte.
Tübingen48.5236164,9.0535531Stadt am Neckar im Königreich Württemberg mit 1477 gegründeter Universität, etwa 40 Kilometer südlich von Stuttgart gelegen.
DeutschlandKulturgeschichtlich ist damit der Raum deutscher Nation und Sprache gemeint, wo „Teutschland“ im Laufe der Frühen Neuzeit eine Kurzbezeichnung für das „Heilige Römische Reich teutscher Nation“ wurde. Im 19. Jahrhundert wurde „Deutschland“ immer mehr zur inoffiziellen Bezeichnung für die deutschsprachigen Gebiete Mitteleuropas, zunächst das Gebiet des 1815 gegründeten Deutschen Bundes, dann des 1871 gegründeten Deutschen Reiches.
Edinburgh55.9533456,-3.1883749Hauptstadt und zweitgrößte Stadt Schottlands (UK).
Berlin52.5170365,13.3888599Hauptstadt des Königreichs Preußen und ab 1871 auch des Deutschen Reiches.
FrankreichNach der Französischen Revolution von 1789 wurde das in Westeuropa am Atlantik gelegene Frankreich 1791 konstitutionelle Monarchie, 1793 Republik, 1804 Kaiserreich, 1830 Königreich, 1848 wieder Republik, 1852 erneut Kaiserreich und von 1871 bis 1940 zum dritten Mal Republik.
Straßburg48.584614,7.7507127Ehemalige Reichs-, Universitäts- und Bischofsstadt am Westufer des Rheines und an der Ill zwischen Vogesen im Westen und Schwarzwald im Osten gelegen.
Metz49.1196964,6.1763552Etwa 800 Kilometer südöstlich von Berlin und etwa 150 Kilometer nordwestlich von Straßburg an der Mosel gelegene Festungsstadt und Verwaltungssitz des Bezirks Lothringen im Reichsland Elsaß-Lothringen.
Deutsch-Französischer Krieg (1870/71)Der „Deutsch-Französische Krieg“ von 1870/1871 war eine militärische Auseinandersetzung zwischen Frankreich einerseits und dem Norddeutschen Bund, der sich 1867 als erster deutscher Bundesstaat konstituierte, nachdem Preußen über Österreich als Anführer des vorangegangenen Deutschen Bundes (Staatenbund) 1866 im sogenannten „Deutsch-Deutschen Krieg“ bzw. „Preußisch-Österreichischen Krieg“ gesiegt hatte, womit die sogenannte großdeutsche Lösung zur Verwirklichung eines deutschen Nationalstaates ausschied und eine Einigung Deutschlands unter dem Hause Hohenzollern in Form der kleindeutschen Lösung immer wahrscheinlicher wurde, unter der Führung Preußens sowie den mit ihm verbündeten süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg, Baden und Hessen-Darmstadt. Dieser Krieg wird auch als sogenannter dritter Einigungskrieg bezeichnet, da die Gründung des deutschen Kaiserreiches 1871 aus ihm resultierte.
Hegel’sche PhilosophieDie Philosophie des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1861) in der Gesamtheit seines philosophischen Werkes und Wirkens.
Philosophische Bibliothek1868 gegründete Buchreihe für die Edition philosophischer Primärliteratur.
SäcularfeierHundertjahrfeier, Feier anlässlich eines hundertjährigen Jubiläums.
Briefe von und an Hegel (Karl Hegel)Zweiteilige, in Leipzig 1887 erschienene Briefedition Karl Hegels (1813-1901) die väterlichen Briefe betreffend: „Briefe von und an Hegel“ (= Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, Bände 19.1/19.2).
Aus Schellings Leben (Plitt)Dreibändige Ausgabe des Briefwerks des Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854) durch den Erlanger Theologen und Kirchenhistoriker Gustav Leopold Plitt: „Aus Schellings Leben in Briefen“, Leipzig 1869/1870.
Professor, ProfeßorBerufs- oder Amtsbezeichnung und Anrede für den Inhaber einer Professur an einer Universität oder Hochschule, wobei nicht jeder Professor eine Professur bekleidet; früher auch Bezeichnung für einen Gymnasiallehrer (Gymnasial-Professor) bzw. Lehrer an einer Lateinschule.
VerfassungHerbeiführung eines geordneten Zustands sowie der Zustand selbst, insbesondere die gesamtpolitische Gestalt eines Staates, auch einer Stadt etc.; Zustand.
Druck, Drucke„Druck“ als Abkürzung oder Synonym für Drucklegung gebraucht, darüber hinaus auch für ein fertiges Druckerzeugnis (z. B. Kunstdruck, gedruckte Edition einer handschriftlichen Quelle etc.) stehend, somit auch im Sinne von „alte Drucke“.
PrivatexistenzPrivatleben; Lebensführung und Lebenshaltung im privaten, nicht beruflichen Bereich.
ZeitgeschichteBegriff, der das aktuelle, zeitgenössische, vornehmlich politisch konnotierte Zeitgeschehen umschreibt, welches von dem jeweiligen Menschen entsprechend verfolgt und wahrgenommen wird; auch Beschreibung eines Teils der Geschichtswissenschaft in Bezug auf die Epoche der späten Neuzeit bzw. Neuesten Geschichte, die von einem Teil der Zeitgenossen zumindest teilweise noch als Zeitzeugen miterlebt werden konnte.
RepublikStaatsform, bei welcher die Regierung vom Volk oder Repräsentanten des Volkes gewählt wird für eine bestimmte Dauer.
Republik, dritte (Frankreich)Die sogenannte „Dritte Französische Republik“ war die Bezeichnung für den französischen Staat, welcher von 1870 bis 1940 in dieser Form Bestand hatte.
kaiserlichAuf einen Kaiser oder ein Kaiserreich bezogen, zu ihm gehörend, es betreffend etc.
Oesterreicher, ÖstreicherIn Österreich lebende(r) Mensch(en), oder von daher stammend, die entsprechende Staatsangehörigkeit habend.
grande nationAuf die Napoleon-Zeit zurückgehender Begriff zur Bezeichnung Frankreichs, welcher in Frankreich historisch vornehmlich für die Zeit von 1790 bis 1800 verwendet wird; im Ausland wurde der Begriff auch als Synonym für Frankreich nach jeweils zeitgenössischer politischer Lage in unterschiedlichen Konnotationen verwendet.
Französisch, französischZu Frankreich gehörend, Frankreich zuzuordnen, auf Frankreich bezogen; Französisch als Unterrichtsfach an Schulen bzw. universitäre Disziplin.
Stadt, StädteAllgemein in einer Landschaft, einer Herrschaft bzw. in einem Staat verkehrsgünstig, oft zentral gelegener Knotenpunkt von Handel und Gewerbe, Regierung, Verwaltung, Militär und Kult; oftmals Mittelpunkte eines Volkes und weltweit nachweisbar auch hinsichtlich früher Hochkulturen; innerhalb der europäischen Geschichte enge Verflechtung mit Markt und Handel, Ansiedlung von Kaufleuten, Handwerkern und Militär; frühes Streben auf europäischen Boden innerhalb der Städte nach Freiheit und Selbstverwaltung auch äußerlich in Form der freien Reichsstädte mit eigenem Stadtrecht („Stadtluft macht frei“) in Abgrenzung zum geltenden Landrecht, womit die Städte auch als Keimzelle des Bürgerstandes anzusehen sind. Mit seinen Arbeiten zur städtischen Verfassungsgeschichte und der Edition der „Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert“ im Auftrag der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München beteiligte sich Karl Hegel (1813-1901) führend an der faktisch-wissenschaftlichen Beweisführung hinsichtlich dieser Annahme hin zur bewiesenen Tatsache, womit seine Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der stadtgeschichtlichen Forschung als gleichsam richtungsweisend wie fundamental anzusehen sind.
AlpAlb, Nachtgespenst, gespenstisches Wesen, Gehilfe des Teufels (aus dem Mittelhochdeutschen).
Mehrere Registerverweise
Zitierempfehlung
Die wissenschaftliche Korrespondenz des Historikers Karl Hegel (1813-1901), bearbeitet von Helmut Neuhaus und Marion Kreis