Cannstadt 24 September 1870
Liebes Weibchen!
Meine gewichtige Sendung von Frankfurt unter 5 Siegeln wirst Du erhalten haben.
Ich verließ gestern Vormittag um 10 ½ Uhr Frankfurt und fuhr nach Mannheim, wo ich gegen 1 Uhr antraf. Es war ein schöner heiterer Tag. In Frankfurt und unterwegs begegnete ich bisweilen Transporten von Verwundten und Maroden, auch frischen Mannschaften, die fröhlich nach Frankreich auszogen; welcher Contrast! Nach eingenommener schlechter Mahlzeit in der nächsten Restauration von Mannheim spazierte ich durch den Schloßgarten nach dem herrlichen Rhein und fuhr auf dem Dampfboot nach Ludwigshafen. Auch dort sah ich wenig Spuren des Kriegs. Er ist ja Gottlob weit weg von unseren Fluren, und der Landmann kann Dank unseren tapferen Kriegern ungestört seinen friedlichen Beschäftigungen nachgehen.
Ich beschloß an dem schönen Heidelberg vorüber zu fahren, da ich doch nur wenig Hoffnung hatte, Gervinus dort | anzutreffen, und häufige Veränderungen der Nachtquartiere scheue. Ich habe das Verlangen mich etwas auszuruhen. Deßhalb fuhr ich auch an Stuttgart hieher nach Cannstadt vorüber, wo ich vor 10 Uhr Nachts eintraf. Ich ging nicht in das schöne Hotel Hermann, welches einst auf uns einen so zauberhaften Eindruck machte, sondern in ein weniger anspruchsvolles, aber gleichfalls gutes Hotel Föhrenbach, näher am Bahnhof, mit einem schönen Garten. Heute morgen spazierte ich in der schönen Umgebung nach dem Kurhaus und auf der Höhe hinter diesem, und besuchte – Herrn Hofrath von Veiel. Er wohnt in einem großen Haus, welches zugleich Heilanstalt ist, an einem Platz unweit vom Bahnhof. Ich fand einen ältlichen Herrn, in meinen Jahren, und rechten Würtenberger. Ich trug ihm den Fall vor. Er war geneigt das Leiden in Zusammenhang mit der Typhuskrankheit zu bringen und den Sitz des Übels in versteckten Drüsen zu finden, welche auf die Eustachische Röhre (die aus der Mundhälfte nach den Ohrengängen führt) drücken. Durch blutreinigende Mittel, Bäder (Salzbäder) und entsprechende Diät sei zu verfahren; er versprach sich wenig von Ohreneinspritzungen. Ein sicheres Versprechen der Heilung könne er freilich nicht geben.|
Der Mann hat ohne Zweifel eine reiche Erfahrung und flößt gutes Vertrauen ein. Doch was sollen wir thun? Sollen wir die Hülfe von Tröltsch zurückweisen? Ich komme auf den Gedanken, daß wir vorher noch einmal Aldinger hören sollten, welchen Annchen jedenfalls besuchen will. Fahre Du mit ihr hinüber und befrage ihn ohne Rückhalt, was er von einer solchen inneren Kur hält. Für die letztere spricht doch auch Böhms Behandlung, welche momentan einen so erwünschten Erfolg erzielte. Dies bestärkte auch den Hofrat von Veiel in seiner Ansicht, doch meinte er, würde er aus verschiedenen Gründen nicht Calomel, sondern den Zitmannschen Decoct gebrauchen, und außer dem Bäder und Anderes.
Ich schicke den Prospect mit, den er mir gab, als ich nach den Bedingungen fragte. Das Honorar kommt natürlich außerdem noch hinzu und so werden die Kosten nicht unbedeutend sein mit der Reise und Allem. Für die Kur sei jede Jahreszeit geeignet. –
Heute Nachmittag werde ich die königlichen Schlösser in der Umgebung besuchen, wozu das schöne Wetter geeignet ist. Morgen Sonntag will ich in Stuttgart zubringen, mein Nachtquartier aber hier behalten. Doch weiß ich nicht, auf wie lange, da ich auch nach Tübingen will. Schreibe daher nur nach Stuttgart, an Stälin, mit dem zusammen ich, wie ich hoffe, die Reise nach München machen werde. |
Schicke mir nach München außer dem Paspertin, wovon ich schon schrieb, auch noch ein Taghemde, nebst zwei Vorhemden und einigen Krägen mit.
Ich schreibe undeutlich mit der glatten Stahlfeder.
Herzliche Grüße an die Kinder; bei dem schönen Wetter wirst Du gewiß mit ihnen häufige Spaziergänge unternehmen.
Ich schrieb vorhin, daß Annchen noch einmal zu Aldinger gehen werde, denn ich weiß, daß sie ihn nicht angetroffen hat. Weil ich auf dem Fürther Bahnhof noch Zeit genug übrig hatte, ging ich ihr nach zu Aldinger, fand ihn aber nicht mehr dort, weil Aldinger verreist war. Lebe wohl, liebe Susi, und denke an
Hegel, KarlKarl Hegel
HiKo
11657075X
Hegel, Susanna Maria Karoline Henriette, geb. Tucher
Susanna Maria Hegel, geb. Tucher116146891918261878Hegel, Susanna Maria Karoline Henriette, geb. Tucher (1826–1878), häufig „Susette“ genannt, Tochter Johann Sigmund Karl Tuchers (1794–1871) und Maria Magdalena Tuchers, geb. Grundherr (1802–1876), Ehefrau Karl Hegels (1813–1901); siehe auch: Tucher, Susanna Maria.
Cannstadt (Cannstatt)48.8048828,9.2146797Etwa 5 Kilometer nordöstlich von Stuttgart am Neckar gelegen, entwickelte sich der Ort seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und ab 1806 im Königreich Württemberg zu einem bedeutenden Kur- und Erholungsort.
Privatbesitz
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Neuhaus
, Helmut (Hg.): Karl Hegels Gedenkbuch. Lebenschronik eines Gelehrten des 19. Jahrhunderts, Köln, Weimar, Wien 2013.
Neuhaus
, Karl Hegels Gedenkbuch
2013
Gervinus (Gervin), Georg Gottfried jun.Georg Gottfried Gervinus11853891818051871Gervinus, Georg Gottfried jun. (1805–1871), deutscher Historiker, Literaturhistoriker und Politiker, Sohn von Georg Gottfried Gervinus sen. (1765–1837) und seiner Ehefrau Anna Maria Magdalena Gervinus, geb. Schwarz (1772–1837). Er war Ehemann von Victorie Gervinus, geb. Schelver (1820–1893), 1835/1836 Professor der Geschichte und Literatur an der Universität Heidelberg, 1836/1837 an der Universität Göttingen (einer der „Göttinger Sieben“), 1844 Honorarprofessor an der Universität Heidelberg, 1848 Mitglied der Frankfurter Paulskirchen-Versammlung.
Veiel, Albert Friedrich11575210218061874Veiel, Albert Friedrich (1806–1874), deutscher Arzt und namhafter Dermatologe in Cannstatt.
Tröltsch, Anton Friedrich11742021218291890Tröltsch, Anton Friedrich (1829–1890), in Schwabach bei Nürnberg geborener Sohn des späteren Appellationsgerichtsrates Christian Friedrich Tröltsch (1780–1851) und seiner Ehefrau Susanne Tröltsch, geb. Haller von Hallerstein († 1840), der nach seinem Abitur in Nürnberg zunächst an der Universität Erlangen Rechtswissenschaften studierte. Nach zwei dem Studium der Naturwissenschaften gewidmeten Semestern an der Universität München studierte er von 1849 bis 1853 Medizin an der Universität Würzburg und bildete sich, in Würzburg promoviert, bis 1856 in verschiedenen europäischen Städten (Berlin, Prag, Dublin, Glasgow, London, Paris) weiter, immer mehr der Augen- und Ohrenheilkunde zugewandt. Ab 1857 praktizierte er vornehmlich als Ohrenarzt, habilitierte sich 1861 an der Universität Würzburg und wurde dort 1864 außerordentlicher Professor der Ohrenheilkunde.
Aldinger, Georg Wolfgang10534055291798Aldinger, Georg Wolfgang (* 1798), im Jahre 1823 an der Universität Erlangen promovierter Mediziner mit Arztpraxis in Fürth.
Böhm, Ludwig11760913718111869Böhm, Ludwig (1811–1869), Arzt, 1841 Privatdozent an der Berliner Universität, Assistent an der Dieffenbachschen Klinik in Berlin (benannt nach dem Chirurgen Johann Friedrich Dieffenbach [1792–1847]), 1845 außerordentlicher Professor der Chirurgie und Augenheilkunde an der Poliklinik in Berlin; Adoptivsohn Johannes Schulzes (1786–1869), Karl Hegels (1813–1901) väterlichem Freund, und ab 1849 Direktor der Unterrichtsabteilung im preußischen Ministerium für geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten.
Stälin, Christoph FriedrichChristoph Friedrich Stälin
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11720279718051873Stälin, Christoph Friedrich (1805–1873), in Calw geborener Bibliothekar und Historiker, der von 1821 bis 1825 an den Universitäten Tübingen und Heidelberg Philosophie, Theologie und Philologie studierte und danach in den Dienst der Königlichen Öffentlichen Bibliothek in Stuttgart eintrat, deren Direktor er 1869 wurde. Im Jahre 1858 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.
Frankfurt (Main)50.1106444,8.6820917Ehemalige Reichsstadt am Main, oftmaliger Wahl- und Krönungsort der Könige des Heiligen Römischen Reiches sowie Freie Stadt innerhalb des Deutschen Bundes, dessen Bundestag sich dort versammelte. Die Frankfurter Paulskirche war von Mai 1848 bis Mai 1849 der Tagungsort der Frankfurter Nationalversammlung, die die Frankfurter Reichsverfassung vom 28. März 1849 erarbeitete. Seit dem Mittelalter war es eine bedeutende Messestadt und ein Finanzplatz mit Wertpapierbörse für den Handel mit Staatsanleihen und Aktien.
Mannheim49.4892913,8.4673098Ehemalige Residenzstadt der Kurfürsten von der Pfalz an der Mündung des Neckars in den Rhein, etwa 80 Kilometer südlich von Frankfurt am Main gelegen, seit 1806 Stadt im Großherzogtum Baden.
FrankreichNach der Französischen Revolution von 1789 wurde das in Westeuropa am Atlantik gelegene Frankreich 1791 konstitutionelle Monarchie, 1793 Republik, 1804 Kaiserreich, 1830 Königreich, 1848 wieder Republik, 1852 erneut Kaiserreich und von 1871 bis 1940 zum dritten Mal Republik.
RheinCirca 1233 Kilometer langer, im Schweizer Kanton Graubünden entspringender Fluß im Westen des Gebietes des Deutschen Bundes, von der Schweiz, durch den Bodensee, am Ende durch die Niederlande fließend und in die Nordsee mündend.
Ludwigshafen49.4704113,8.4381568Etwa 85 Kilometer südlich von Frankfurt am Main gegenüber von Mannheim am westlichen Ufer des Rheines gelegener pfälzischer Ort, der 1816 ans Königreich Bayern fiel. Er ist nach König Ludwig I. von Bayern (1786-1868) benannt und wurde 1859 vom bayerischen König Maximilian II. Joseph (1811-1864) zur Stadt erhoben. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sie sich zu einer aufstrebenden Industriestadt, in der sich 1865 die Badische Anilin- und Sodafabrik (BASF) ansiedelte.
Heidelberg49.4093582,8.694724Alte Universitätsstadt am Neckar, seit 1803 zum Großherzog Baden gehörend und mit Eisenbahnanschluß seit 1840. Circa 90 Kilometer südlich von Frankfurt am Main gelegen, war die Stadt mit ihrer malerischen Schloßruine einer der Hauptorte der Romantik.
Stuttgart, auch: Stuttgard48.7784485,9.1800132Am Neckar gelegene Haupt- und Residenzstadt des Königreichs Württemberg.
Tübingen48.5236164,9.0535531Stadt am Neckar im Königreich Württemberg mit 1477 gegründeter Universität, etwa 40 Kilometer südlich von Stuttgart gelegen.
München48.1371079,11.5753822Haupt- und Residenzstadt des Königreichs Bayern an der Isar in Oberbayern.
Fürth49.4772475,10.9893626Etwa zehn Kilometer westlich von Nürnberg am Zusammenfluß von Pegnitz und Rednitz gelegene Stadt des Königreichs Bayern (1808/1818), die 1835 als Endpunkt der ersten deutschen Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth mit der beginnenden Industrialisierung in Berührung kam, 1843 Anschluß an den Ludwig-Donau-Main-Kanal fand und sich mit den Eisenbahnanschlüssen an die Ludwig-Süd-Nord-Bahn und die Ludwigs-West-Bahn der 1860er Jahre zu einer modernen Industriestadt entwickelte.
Mannheimer SchloßgartenIm Zusammenhang mit der Errichtung des Mannheimer Schlosses in den Jahren von 1720 bis 1760 als Residenz der Kurfürsten von der Pfalz (bis 1777) entstand auch ein barocker Park, der von der Mitte des 19. Jahrhunderts an von Straßen- und Eisenbahntrassen durchschnitten wurde und dadurch die Anlage vom Rhein trennte.
Hotel Her[r]mann (Cannstatt)Das von Carl Heinrich Herrmann 1818 auf dem Gelände einer antiken römischen Villa errichtete Hotel entwickelte sich im 19. Jahrhundert zu einem international renommierten Haus.
Hotel Föhrenbach (Cannstatt)In Bahnhofsnähe gelegenes Hotel in Cannstatt.
Eustachische RöhreOhrtrompete.
CalomelQuecksilberchlorid, toxisches Arzneimittel zur Behandlung verschiedener körperlicher und psychischer Erkrankungen.
Zitmanscher DecoctAbgekochtes flüssiges Arzneimittel.
PaspertinMedikament gegen Übelkeit und Erbrechen.