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Karl Hegel an Susanna Maria Hegel, geb. Tucher, Cannstatt, 26. September 1870

Geliebtes Weibchen!

Dies ist mein dritter Brief und noch habe ich keinen einzigen von Dir! Hoffentlich kommt er heute Nachmittag von Stuttgart.

Die letzten Tage brachte ich hier in Cannstadt angenehm zu. Ich schickte meinen letzten Brief1 an Dich Sonnabend Nachmittag ab. In Gesellschaft von zwei anderen Herren, Prof. Fering aus Heidelberg der eine, ein Herr Kempel2 der andere, besuchte ich die Schlösser Rosenstein und Wilhelma. Die letztere sahen wir (ich meine Dich und mich) auf unserer Reise im Jahre 1859 nicht3, weil sie durchaus unzugänglich war; sie ist aber viel reizender in Gartenanlage und maurischer Architektur und innerer Ausschmückung als das andere Schloß. Die schön gelegene Villa damals des Kronprinzen, jetzt die königliche habe ich nicht wieder besucht, da ich an den zwei anderen Schlössern für diesmal genug hatte. Ich fuhr dagegen noch nach Stuttgart per Pferdebahn, die alle 10 Minuten zwischen Cannstatt und dort geht, besichtigte Stadt, Läden und dergleichen und besuchte gegen 7 Uhr Freund Stälin, der mich in seiner liebenswürdigen herzlichen Weise empfing. Seine Frau war nicht präsentabel, wie er sagte und hatte Besuch. Ich erspare mir den Besuch auf morgen, denn allerdings war die späte Abendstunde für ein Haus von so soliden schwäbischen Gewohnheiten wie dieses, dazu nicht wohl geeignet. Auch eingeladen zu Tisch, wie ich erwartete, für nächsten Mittag wurde ich nicht. Dagegen erbot sich mein Freund mich am folgenden (Sonntag) Nachmittag in Cannstatt abzuholen und mit mir nach Unter Türkheim zu fahren. Ich war schon um 8 Uhr früh auf dem Wege nach Stuttgart geeilt, um eine Predigt von Prälat Kapf in der Stiftskirche zu hören. Ich wußte, daß der treffliche Mann bisweilen Politik vorträgt und wie die große Mehrzahl der würtembergischen Pfarrer gut national gesinnt ist. Deßhalb ging ich doppelt gern zu ihm. Ich war fast Punkt 9 Uhr am Eingang der Stiftskirche vor Beginn des Gottesdienstes und fand den großen Raum unten und oben auf den Gallerien bereits so besetzt, daß ich nur im hintersten Winkel einer oberen Gallerie noch einen Platz zum Sitzen fand. Der Herr Prälat predigte sehr einfach und plan, ohne allen Affect und doch zum Herzen sprechend, er trug keine Dogmatik vor, sondern praktisches Christenthum über den Text: Was es heiße: reich sein in Gott!4 Eine solche Predigt spricht die Gemeinde an und Jeder trägt etwas zu seinem inneren Nutzen mit sich nach Haus.

Ich erkundigte mich auf der Polizei nach Kiesers Wohnung und erfuhr sie: Marienstraße 25; sie war weit entfernt, nahe der Silberburg. Aber Kieser war nicht anwesend, auch Auguste nicht; denn er ist nach Frankreich, um seinen Sohn Guntram vielleicht noch lebend anzutreffen, denn es sei Nachricht gekommen, daß er am 5. dieses Monats noch lebte. Auguste war unwohl gewesen und gerade zum ersten Mal ausgegangen.

Ich ging vollends auf die Silberburg, wo man eine sehr schöne Aussicht hat; kam später wieder durch die Stadt, wo ich zufällig in die Gewerbeausstellung gelangte und eine französische Mitrailleuse fand. Um 1 Uhr Mittags war ich wieder zum Essen in Cannstadt und um 2 ½ Uhr fuhr ich mit Stälin nach Unter Türkheim und bestieg den Berg Rothenberg, auf dessen Spitze eine russische Kapelle erbaut ist, in welcher der verstorbene König Wilhelm neben seiner ersten Gemahlin ruht. Nach 7 Uhr kam ich mit Stälin hierher zurück.

Heute morgen besuchte ich einen andern schönen Aussichtspunkt, den mir Stählin empfohlen, auf Burgholz. Heute Nachmittag gehe ich durch Berg nach dem hochgelegenen Schützenhaus und von dort nach Stuttgart herunter.

Am Mittwoch5 fahre ich nach Tübingen und bleibe Donnerstag dort, am Freitag nach München über Ulm mit Stälin, der mir aus Stuttgart entgegenkommt. Dieser will morgen unterdessen nach Mannheim.

Ich erwarte, daß Morgen eine Correctur aus Leipzig ankommen wird; diese schicke mir, sofern sie noch am Dinstag abgehen kann, nach Tübingen unter Adresse des Prof. Julius Weizsäcker.

Wenn sie später Mittwoch usf. kommt, schicke sie nach München, Goldner Bär.

Am Mittwoch gebe auch meinen Nachtsack nach München auf. Ich erwarthe, wie ich schon schrieb, mein Paspertin, brauche außer schwarzem Anzug und Hut, ein Taghemde mit zwei Vorhemden, ein Nachthemde, zwei Paar baumwollene Strümpfe (nicht wollene, die habe ich schon), ein Paar Kragen, ein Schnupftuch, eine Weste (die gewöhnliche Sommerweste), ein Paar Unterhosen.

Ich grüße Dich und die Kinder tausend Mal. Lebe wohl

Dein Geliebter
und Getreuer.

P. S. Prof. Köhler (Mediciner) aus Tübingen mit Frau und hübscher Tochter gehören hier zur Mittagsgesellschaft im Hotel. Ich unterhalte mich ganz gut.