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Karl Hegel an Immanuel Hegel, Erlangen, 31. Dezember 1870/1. Januar 1871

Lieber Manuel!

Am heutigen Sylvesterabend will ich Deiner und Deiner Lieben gedenken! Die Jahre rauschen an uns vorüber und fügen fast unmerklich einen Ring an den andern in unserer kurzen Lebensbahn, bis plötzlich die Kette abgebrochen wird. Mein Streben geht immer auf nach vorwärts und wiewohl ich wissenschaftlich und literarisch beständig mit Rückblicken in die Vergangenheit beschäftigt bin, nimmt mich im Übrigen doch die ereignißvolle Gegenwart so sehr in Anspruch, daß ich kaum dazu komme einen Rückblick in mein eigenes Leben zu thun. Heute war der rechte Moment dazu, und doch nimmt mich auch jetzt wieder dieselbe Vielgeschäftigkeit im Hause und außer dem Hause hin. Je länger man lebt, desto mehr häufen sich die Beziehungen, die uns mit tausend Fäden fesseln und an uns herumzerren, während man im unaufhaltsamen Strome fortschwimmt und Mühe hat, sich oben zu halten.

Meine Wünsche für Dein Wohlbefinden und das Glück der Deinen sind jetzt natürlich am meisten auf Deinen einzigen tapferen Sohn gerichtet, den Gott Dir erhalten, aus tausend Gefahren, die ihn umschweben, glücklich erretten möge! Wir haben lange schon nach Nachrichten von ihm verlangt, bis ich von Dir die letzte beruhigende erhielt, wonach er auch die Gefechte bei Orléans zu Anfang dieses Monats unversehrt überstanden hat. Aber jeder weitere Tag erneuert dieselbe zimliche Ungewißheit, und jetzt ist noch diese ungewöhnlich strenge Winterkälte hinzugekommen, welche in Frankreich nicht viel geringer als bei uns, die Strapazen der Krieger noch um Vieles vermehrt. Von unseren hiesigen jungen Leuten sind Manche, unter anderen Schmidtlein, krank oder marode zurückgekehrt, und die erste Begeisterung, mit der sie ins Feld zogen, hat sich bedeutend abgekühlt. Es spricht für eine starke Constitution unseres braven Willi, daß er bis dahin auch noch nicht an seiner Gesundheit gelitten hat. Und doch hat er noch ganz andere Märsche und Strapazen überstanden als unsere hiesigen Jäger, die bis dahin im ruhigen Quartier südwärts vor Paris gelegen sind. Nur das Tann’sche 1. bairische Corps hat Ähnliches ausgehalten und ist, wie man hört, ziemlich demoralisirt und furchtbar zusammengeschmolzen. Wir haben gute Nachrichten von unserem zum Junker1 angerückten Artilleristen Friedrich, um dessentwillen unsere Eltern beständig in Sorge sind, und ebenso von Ulrich, welcher vor wenigen Tagen Hauptmann geworden ist. Beide stehen nicht weit von einander im 2. bairischen Armee Corps südlich von Paris bei Châtenoy und Bièvre und haben abwechselnd Vorpostendienst. Caroline mit ihren Kindern wohnt in Nürnberg bei den Eltern und schafft ihnen Unterhaltung und Zerstreuung. Wir dürfen ja nun wohl bald, in einigen Wochen hoffentlich, der lang erwarteten Capitulation von Paris entgegensehen und dann wird auch das Ende des Kriegs nicht mehr weit sein. Dann wird man auch erst ganz übersehen, welche ungeheuren Opfer er auch uns gekostet hat.

Meinen zweiten Band Straßburg2 wirst Du aus Leipzig erhalten haben. Es freut mich, daß das Werk, welches mich über ein Jahr beschäftigt hat, endlich abgeschlossen ist. Es war fürwahr ein glücklicher Wurf, daß ich es unternahm. Jetzt ist der größte Theil von dem was darin steht, unwiederbringlich verloren und nur durch meine Wiedergabe oder Benutzung vor dem Untergang gerettet. Die Nachwelt soll mir auch dafür danken.

Das Weihnachtsfest wurde von uns auch dis Mal, wie sonst, mit doppelter Bescherung gefeiert, nur mit dem Unterschied, daß wir am Heiligen Abend noch hier in Erlangen waren, und erst am Heiligen Christtage Nachmittag nach Nürnberg fuhren, wo bei den lieben Eltern für uns und die Kinder wie die Anderen aufgebaut war. Von Sophies Kindern war nur eines anwesend, weil die anderen den Keuchhusten haben. Auch die Eltern Crailsheim fehlten, weil der gute alte Forstmeister seit einiger Zeit leidend ist. Ich reiste schon am zweiten Feiertag Abends zurück, während die Meinigen noch bis Donnerstag3 Mittag blieben.

1. Januar 1871. Ich schließe den Brief am Neujahrsmorgen. Die Sonne ist prachtvoll aufgegangen, das Thermometer zeigte 16 Grad Kälte. Wir hatten gestern Abend den Major Freudel (beim hiesigen Landwehrcommando) unsern Hausfreund bei uns und Frau Professor Marquardsen, deren Mann beim Landtage in München weilt. Was uns dies elende Abgeordnetenhaus noch bringen wird? Möglich daß unsere bornirten Patrioten aus purer Bosheit den Zusammenschluß des deutschen Reichs noch auf kurze Zeit hinausschieben, möglich auch, daß ein Theil davon sich noch im letzten Moment eines Besseren besinnt.

Ich grüße von Herzen Clara, Marie, Clärchen und unseren tapferen Willi in der Ferne. Meine Frau wird selbst schreiben. Die Kinder sind wohl.

In brüderlicher Liebe
Dein Karl