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Karl Hegel an Immanuel Hegel, Erlangen, 22. Mai 1871

Lieber Manuel!

Gestern Nachmittag erhielt ich gleichzeitig mit Deinem Brief1 auch die Einladung von Michelet zur Hegelfeier, und zwar ist letztere zugleich an die hiesige Universität gerichtet, sodaß ich wohl zugleich als deren Deputirter erscheinen werde. Jedenfalls werde ich kommen. Deine und der lieben Clara Aufforderung, auch meine Susanna mitzubringen, hat uns beide sehr erfreut, und es bedurfte keiner langen Erwägung, um uns dafür zu entscheiden ihr zu folgen. Zwar war Annchens Abreise nach Kreuznach bereits auf den 30. Mai festgesetzt; dise läßt sich aber unschwer bis zu unserer Rückkehr verschieben, wie es nicht anders sein kann, wenn Susanna fortgeht, weil die kleine Mim nicht allein das Haus regieren kann. So werden wir also mit vieler Freude in der Woche nach Pfingsten2 zu Euch kommen, ich denke etwa am Mittwoch oder vielleicht schon am Dinstag, wenn wir nämlich schon am Montag uns losmachen können. Denn zwei Tage brauchen wir, da ich mich in Leipzig aufhalten will, um meinen Verleger und einen dortigen Mitarbeiter zu sprechen und wir auch gern die Familie Mangelsdorf dort und die alten Erlanger Freunde aufsuchen wollen. Eine Woche rechne ich auf Berlin, da ich länger nicht von hier fortbleiben darf und auch Annchens Abreise uns zurück ruft.

Ein sehr schmerzlicher Umstand könnte jedoch alle diese Dispositionen durchkreuzen. Wir erfahren seit einigen Tagen, daß es mit dem Befinden des lieben Vaters in Nürnberg bedenklich schlimmer steht. Es ist ein Rückfall eingetreten, der die vor kurzem genährten Hoffnungen grausam durchschnitten hat. Die beängstigenden Hemmungen des Athmungsprozesses haben sich verendert, die Füße sind stärker angeschwollen, die völlige Lähmung des langsamen Herzschlages und damit das Ende des theuren Lebens ist früher oder später zu erwarten. Es wird auf die Frist ankommen, ob sie uns noch für die Reise vergönnt ist. Davon und von dem Tag der Abreise wie der Ankunft bei Euch sollst Du in einigen Tagen weitere Nachricht erhalten.

Wir freuen uns sehr darauf auch den guten Willi wiederzusehen, bedauern aber ebenso sehr, daß Marie nicht anwesend sein wird. Gewiß wird sie dies am meisten beklagen, daß sie so vieles was ihr Freude gemacht hätte versäumen soll, unsern und Willis Besuch, die Hegelfeier, und dann den Truppeneinzug – wäre es nicht möglich sie zurückkommen zu lassen?

Für die Zusendung Deiner Schrift über die St. Matthäus-Kirche3 danke ich herzlich und ebenso für die anmuthige Zugabe der Familienchronik. Mit vieler Theilnahme habe ich aus jener ersehen, wie die junge Matthäus-Gemeinde in verhältnißmäßig kurzer Zeit aufgeblüht ist, und was sie, unterstützt durch die hervorragende Opferwilligkeit Einzelner, auf dem kirchlichen Gebiet geleistet hat. Das andere Exemplar will ich meinem Collegen von Zezschwitz geben, da ich doch eine Wahl unter den Theologen treffen muß, und zwar aus dem doppelten Grunde, weil er unser Universitätsprediger ist und weil er vielleicht der schärfste Gegner der Union unter unseren hiesigen Theologen ist. Ihn zu bekehren darf ich nicht hoffen, aber wir stehen so gut miteinander, daß er mir eine kleine Bosheit nicht verargen wird.

Ich hoffe in Berlin, wenn nicht den Truppeneinzug, doch wenigstens den Reichstag4 in der Nähe zu sehen. Du hast wohl Gelegenheit für mich und Susanna eine Zutrittskarte zu der Tribüne zu verschaffen. Sonst kann ich mich auch an unseren Abgeordneten Marquardsen wenden. Und wie viel Bekannte aus alter Zeit werde ich dort antreffen! Es ist mein herzlicher Wunsch, daß vor allem wir Geschwister nach so langer Zeit uns endlich wieder einmal zusammenfinden.

Susanna grüßt die liebe Clara mit mir – binnen kurzem sind wir hoffentlich bei Euch.

In brüderlicher Liebe
Dein Karl.