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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Barzdorf, 18. August 1871

Lieber Karl!

Deine lieben Briefe1, für welche ich Dir herzlich danke, haben uns sehr schmerzliche Trauernachrichten gebracht, zuerst von dem freilich schon längst befürchteten Hinscheiden des armen Herrmann Tucher, der in weiter, weiter Ferne von den Seinen, ohne noch einmal in ihr Auge blicken und ihre Hände drücken zu können, ein hinsiechendes Leben beschließen mußte: es ergreift uns dies Bild sehnsuchtsvoller Wehmuth, welches jedoch durch die Ueberzeugung eines seligen Eingangs in die Hütten des Friedens seine volle Versöhnung findet. Schwerer ist der nach langem Kampfe der Natur zur Herrschaft hindurch gedrungene Tode der lebenskräftigen Sophie Crailsheim menschlich zu überwinden2, welche aus einer glücklichen Ehe und zahlreicher Kinderschaar und allseitig befriedigenden Verhältnissen entrissen worden.3 Der Glaube hat auch hier seine segnende und heilbringende Kraft bewährt und wird sie ferner beweisen; aber es ist doch für das verwaiste Haus eine recht schwere Heimsuchung, und mit tiefster Theilnahme möchten wir der lieben alten Tante Marie gedenken, deren treues Mutterherz nun auch durch diesen schmerzlichen Verlust belastet worden ist. Wenn Du ihr schreibst, spreche ihr auch mein und unser Aller innigstes Mitgefühl aus; ich unterlasse es für jetzt unmittelbar an sie zu schreiben, da sie zu ihrer Erholung im Gebirge verweilt, und ich auch nicht weiß, ob und in welcher Weise es ihr Bedürfnis und wohlthuend sein möchte, noch besondere Beweise der Theilnahme zu empfangen. Ich nehme an, daß sie auch mit dem Leben in ihrem Herzen abgeschlossen hat und dem Tage entgegenschaut, welcher sie mit den vorangegangenen Lieben vereinigen wird, wenn sie auch nie aufhören wird, die Ihrigen, welche sie umgeben, mit mütterlicher Fürsorge zu umfassen und sich an ihnen herzlich zu erfreuen.

Deinen ersten Brief4 nach Johannisbad würde ich schon früher beantwortet haben, wenn ich im Stande gewesen wäre, Dir von meinem Willi und seinen viel besprochenen Reiseplänen Nachricht zu geben. Ich habe aber den in Johannisbad noch erwarteten Brief von ihm dort nicht mehr empfangen; ich kann mir dies nicht erklären und muß nun hoffen, bei meiner Rückkehr in Berlin über ihn Kunde zu erhalten. Die Vorlesungen in Göttingen werden am 12ten dieses Monats geschlossen worden sein; seine Germania wollte an diesem Tage auch ihr Stiftungsfest feiern. Der Abschied von Göttingen, wo er sich sehr glücklich gefühlt hat, wird ihm Schmerzen bereitet haben; auch mag er nach Deinen Mittheilungen über die Verwandten in Bayern unschlüssig gewesen sein, wohin er seine Wanderung richten solle. Zunächst wollte er jedenfalls einen Besuch in Arolsen beim Onkel Adalbert machen, und dahin habe ich jetzt auch mit einer Sendung von Reisegeld geschrieben, indem ich ihm vorschlug, die Tuchersche Familie in Simmelsdorf aufzusuchen, und wenn sein Geld reiche, Dich auch in Berchtesgaden zu begrüßen.

Wir sind von Johannisbad am Mittwoch den 16ten dieses Monats nach einem Aufenthalt von fünf Wochen abgereist, sehr befriedigt von der Annehmlichkeit des Orts. Abgesehen von der Wohnung war das äußere Leben wohlfeil und wir hatten eine gute und gesunde Verköstigung. Von erquicklicher Schönheit war das Waldes- und Wiesengrün auf den Bergen und in den Thälern und die erfrischende Gebirgsluft. Das Bad ist bei einer Temperatur der Quelle im Bassin 23 Grad stärkend und belebend; ich habe aber es nicht über 26 Bäder bringen können, weil es doch aufregt und dem Schlaf gefährlich wird. Ob die Kur mich für längere Dauer gestärkt hat, muß ich noch abwarten: doch scheint sie für die rheumatische Empfindlichkeit günstig gewirkt zu haben.

Um zum Schluß noch einen tieferen Blick in das böhmische Riesengebirge zu machen, unternahmen wir in den letzten beiden Tagen, Montag und Dienstag, einen Ausflug über Hohenelbe nach St. Peter, wo wir übernachteten; es liegt im hohen Gebirgsthal der Elbe sehr romantisch, und wir waren auch in der Baude neben der Kirche recht gut aufgehoben. Am folgenden Vormittag wanderten wir in die wilden Schluchten der Siebengründe, wo die Damen sich bemühten, einige flüchtige Skizzen zur Erinnerung aufzunehmen. Sie sind überhaupt in diesen Wochen fleißig im Zeichnen gewesen und bringen einen Schatz an Blättern zurück, welche uns dauernd den Genuß der schönen Natur vergegenwärtigen werden. Am Mittwoch fuhren wir am Morgen über Trautenau, wo auf dem Kapellenberg die Denkzeichen der gefallenen Krieger an die blutigen Kämpfe von 1866 erinnern5, nach Parschnitz zur Eisenbahn und von hier über Liebau nach Altvather. Den Nachmittag benutzten wir zu einem schönen Spaziergang über die Wilhelmshöhe nach dem benachbarten Ober-Salzbrunnen, welcher mit schönen Parkanlagen geschmückt ist. Da wir alle von der Hitze strapaziert waren, verblieben wir noch den folgenden Vormittag in Altvather, fuhren am Nachmittag mit der Eisenbahn weiter und trafen schließlich gegen Abend hier glücklich ein, wo wir von Richthofens sorglich begrüßt und höchst behaglich einquartiert wurden. Wir denken hier noch drei Tage in gemüthlicher Ruhe zu verweilen; es ist in dem stattlichen, bequemen Wohnhaus, an welches sich ein großer Garten mit mächtigen stattlichen Bäumen und weiten wohl gepflegten Rasenflächen anschließt, in dem gebildeten, seit vielen Jahren uns nah befreundeten Familienkreis mit fünf Söhnen und einer Tochter – der älteste Sohn Siegfried hat den Krieg6 in Frankreich mitgemacht – ein wohlthuender Aufenthalt. Am Montag7 Morgen beabsichtigen wir zur Heimkehr aufzubrechen und hoffen Nachmittags um 5 Uhr in Berlin einzukehren. Es wird dann das alte gewohnte Leben wieder seinen Anfang nehmen und seine Rechte behaupten. In früheren Jahren bin ich mit Ungeduld, wieder zur Arbeit zu kommen, zurückgekehrt. Diesmal kann ich solche Lust und Stimmung mir nicht nachrühmen; hoffentlich findet sich Muth und Freudigkeit zum Beruf, wenn ich wieder hineingetreten bin.

Wir freuen uns herzlich, daß Ihr in den schönen Alpen Erholung und Erfrischung gesucht habt und wünschen, daß Ihr dies bei günstigem Wetter gründlich genießen und dann alle Eure Kinder wohlbehalten zu Hause wieder antreffen möget. Gewiß wird auch Eure Anna der Besuch in Bonn zur erfrischenden Anregung gedient haben.8

Die herzlichen Grüße von Klara und meinen Kindern. Sie werden auch bald schreiben. In treuer Liebe

Dein Immanuel