XML PDF

Karl Hegel an Immanuel Hegel, Erlangen, 22. September 1871

Lieber Manuel!

Dein Willi soll Dir von mir und meiner ganzen Familie unsere herzlichen Glückwünsche zu Deinem Geburtstage1 überbringen. Einem besseren und willkommeneren Boten könnten wir sie nicht übertragen. Es wird Deine größte Freude an diesem Tage sein, Deinen braven Sohn, wohlbehalten an Leib und Seele, nach längerer Zeit wieder zu sehen und wieder zu finden. Es ist beinahe überflüssig zu sagen, und doch wirst Du es gerne hören, daß er durch seine Persönlichkeit, sein unbefangenes und dabei bescheidenes Benehmen, seine jugendliche Frische und guten Anlagen überall bei den Verwandten, denen er sich vorgestellt hat, den besten Eindruck hinterlassen hat, am meisten bei uns, die wir ihn herzlich lieb gewonnen haben, wo er sich in diesen nur zu rasch verlaufenden Tagen gleich wie zu Hause fühlte. Wir haben ihm freilich sonst nur wenig bieten können. Doch hat er es im ganzen nicht unglücklich getroffen, vielmehr sehr glücklich in Simmelsdorf, wo es ihm vergönnt war, bei herrlichem Wetter mit andere Gästen in einem heiter und zugleich geistig angeregtem Kreise genußreiche Tage zu verleben. So fand er auch in Nürnberg die beiden Familien Grundherr, in Henfenfeld die Schwarzischen, und sah gestern Nachmittag hier bei uns unsere liebe Mutter mit den Schweinfurtern, wie er alles in lebendiger Schilderung getreu berichten wird. In meinem Hause fehlte nur unser Luischen, welches ich erst aus München abholen werde, wenn ich in nächster Woche mich zu den Sitzungen der historischen Commission dort einfinden werde.2 Unsere Anna kam an demselben Abend mit Willi bei uns an, nachdem sie ein viertel Jahr von uns entfernt gewesen. Wir fanden sie wohl und blühend noch mehr wie sonst und ebenso in unveränderter geistiger Frische und heiterer Gemüthsstimmung, wiewohl ihr eingewurzeltes und sicher schwer zu tragendes Leiden sich um keinen Grad vermindert hat.3 Es ist dies ein beständig nagender Kummer für mich und meine Frau und ich kann nicht anders als mit schwerer Sorge an die Zukunft dieser lieben Tochter denken. Ich vermag mich immer noch nicht darein zu finden. Über die Zukunft meines ältesten Sohnes Georg wird die bevorstehende Prüfung entscheiden. Fällt er durch, so ist ihm das Vorrücken in der Lateinschule so wie in dem Gymnasium ein für alle Mal abgeschnitten. Es bleibt dann nichts übrig als ihn auf die Gewerbeschule zu schicken und ihn für irgend ein technisches Fach zu bestimmen. Vielleicht zeigt er dazu mehr Lust und Talent als für die Grammatik und die alten Sprachen. Es soll mir auch das recht sein, wenn er nur überhaupt sich zu einem tüchtigen Menschen in irgend einem Fach ausbildet.

Ich habe Deinen letzten Brief vom 3. September4 am Tage vor meiner Abreise aus Berchtesgaden erhalten. Du schriebst mir aus der drückenden und staubigen Luft Berlins und von der vielfachen Unruhe, welche Dich dort umgab. Nur mit der ersteren wird es in den letzten Tagen auch dort besser geworden sein. Die Einsegnung Eures Clärchens hat seitdem, wie uns Willi sagte, schon am 14. September, wenn ich nicht irre, stattgefunden. Wir haben an diesem wichtigen Familienereigniß unseren innigen Antheil genommen. Gott gebe, daß das liebe Kind, wenn auch in ungewöhnlich langsamem Fortschreiten, immer mehr geistig gefördert und innerlich befestigt werden möge! Auch mit ihm sind viele Sorgen verbunden! – Den Umzug werdet Ihr hoffentlich ohne Unfall überstanden haben; immer war er eine große Unbequemlichkeit, wofür Euch jedoch in reichem Maß der Trost entschädigt, aus dieser Behausung nicht wieder unfreiwillig vertrieben zu werden.

Von unserer Reise will ich nur noch nachträglich erwähnen, daß wir in Berchtesgaden drei schöne Wochen zubrachten, wobei auch der Verkehr mit meinem Specialcollegen Professor Usinger und dessen liebenswürdiger Frau aus Kiel und der vorübergehende Besuch anderer befreundeter Fachgenossen, Weizsäcker aus Tübingen und Kluckhohn aus München, viel zur Annehmlichkeit und Unterhaltung beitrug. Wir machten gemeinsame, zum Theil weite und anstrengende Parthien zu Fuß auf die Höhen und für uns erreichbaren Alpen nach verschiedenen Richtungen der überall herrlichen Umgebung.5 Am 6. und 7. September waren wir sodann in Salzburg und sahen in nächster Nähe die Kaiserzusammenkunft bei der ersten Begrüßung vor dem Erzherzog Karl, wo der österreichische Kaiser mit seinen Generalen und Ministern – jene zum Theil in einer wahren Papageienuniform, weiß und roth mit hellgrünen Federbuschen – den deutschen und Bismark 5/4 Stunden lang zu Fuß erwarteten. Auch unserem Kaiser  stand die Uniform seines österreichischen Regiments sehr unvortheilhaft. Die schönste Festlichkeit für uns als Publicum war am folgenden Abend die glänzende Beleuchtung auf dem Gaisberg, dem Untersberg, dem Staufen und anderen Höhepunkten in langen Linien von hellen Feuern unter dem bestirnten dunkelblauen Himmel.6 Von Salzburg aus wandten wir uns weiter nach Ischl und von dort an den wundervollen Gmundener See und kehrten über Passau und Regensburg hieher zurück.

Da Willi uns sagt, Deine nachwachsenden Haare wieder völlig schwarz erscheinen, so hoffe ich Dich künftig, da bei mir selbst das Haar noch mehr geblichen, ganz verjüngt wieder zu finden! Ich grüße und mit mir meine Frau, welche Dir gleichfalls ihre herzlichen Glückwünsche bringt, Euch Alle an dem Familien Festtage, bei dem wir so gern selbst zugegen wären.

Dein Bruder Karl.