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Karl Hegel an Immanuel Hegel, Erlangen, 6. Oktober 1871

Lieber Manuel!

Ich habe Deinen Brief vom 26. vorigen Monats in München erhalten1, von wo ich am 3. October hieher zurück kam. Die Jahressitzungen der historischen Commission riefen mich, wie gewöhnlich, dorthin.2 Außer den einheimischen Münchener und bayrischen Mitgliedern waren auch die meisten auswärtigen da, nur Arneth von Wien und Weizsäcker von Tübingen fehlten. Ranke war frisch und lebendig trotz seines hohen Alters, wie immer; dagegen ist Pertz auffallend gealtert und geistig stumpf geworden; Maurer erschien unverändert, ebenso Döllinger, dem man keinerlei Aufregung anmerkte: er verglich seine Lage mit der eines Zunders, den man ins Wasser geworfen und der nun schwimmen müsse. Der Altkatholikencongreß war eben vorüber3, der bayrische Landtag eröffnet und im langwierigen Gange seiner baldigen Auflösung entgegensehend. Dabei das Octoberfest, welches total verregnet wurde. Uns beschäftigte am meisten die Organisation der Arbeit für das neu unternommene Werk der Deutschen Biographien, dessen Hauptredacteur von Liliencron ist; es verspricht sehr weitschichtig zu werden, in 20 starken Bänden; die besten literarischen Kräfte von Deutschland sind dafür aufgeboten und gewonnen worden.4

Unser Luischen mußte ich noch bei Löffelholz zurücklassen, weil ihr Bleiben zur Hülfe beim Wohnungsumzug dringend gewünscht wurde; doch erwarten wir sie hier in der nächsten Woche.

Du hast unterdessen Deinen Umzug glücklich überstanden und findest Dich behaglich in den neuen Räumen, und ich kündige Dir nun den gewünschten Erlanger Gast, um ihn darin zu beherbergen, an. Scheurl war bereits versagt bei Bethmann-Hollweg; ich dachte, daß Dir auch ein alter College und Freund schon von Rostock her, Professor von Hofmann (er hat den bairischen Civilverdienstorden und damit den persönlichen Adel), angenehm und lieb sein werde. Du kennst seine theologisch-kirchliche und wohl auch im allgemeinen seine politische Haltung, welche mit jener in Einklang zu bringen er selbst besser versteht, als es Anderen einleuchten will: er gehört nämlich der bairischen Fortschrittspartei an und war einer ihrer Führer in unserer Abgeordnetenkammer; von dieser hat er sich bei den letzten Neuwahlen5 indessen zurückgezogen, weil er die politische Wirksamkeit mit seinem akademischen und wissenschaftlichen Beruf nicht länger vereinigen konnte: als einen Nationalliberalen in süddeutscher Färbung hast Du ihn zu betrachten. Auf diesem Gebiet wirst Du kaum versuchen Dich mit ihm zu verständigen; auf dem kirchlich politischen möchte dies vielleicht bis zu einem gewissen Punkte gelingen. Jedenfalls wirst Du einen sehr gescheidten, tüchtigen, nach allen Seiten hin hochbegabten und interessanten Mann von trefflichstem Character in ihm finden, dessen nähere Bekanntschaft Dir und den Deinigen von hohem Werth sein wird. Es war zuerst nicht seine Absicht nach Berlin zu gehen, ungeachtet er zu den Unterzeichnern der Einladung gehörte, weil er durch den schmerzlichen Todesfall seiner Schwägerin (Schwester seiner Frau, geborene Lameyer), die er vor 8 Tagen in Engern bei Tegernsee bestattete, niedergelaugt war und seine noch mehr betrübte Frau nicht gern verlassen wollte; doch sagte er mir gestern, daß er sich dennoch zu gehen entschlossen habe und hierauf lud ich ihn in Deinem Namen als Gast zu Dir ein, nachdem ich von Scheurl erfahren hatte, daß er bereits versagt sei. Hofmann hat gern zugesagt und wird Sonntag6 von hier abreisen, Montag früh gegen 8 Uhr in Berlin eintreffen. Deine Wohnung habe ich ihm genannt; vielleicht kannst Du ihn selbst auf dem Bahnhof empfangen oder schickst Willi hin. Du selbst kennst ihn wohl noch von Ansehen; er ist von mittlerer Größe, robust gebaut mit vollem Gesicht, markigen Zügen, ein angehender Sechziger, mehr weiß als grau.

Ich beeile mich Dir dise Ankündigung zuzuschicken, da sie ohnehin spät kommt; warum nicht früher, erklären die oben erwähnten Umstände.

Mit herzlichen Grüßen an Deine Lieben

Dein Bruder Karl.