Die kirchliche Festwoche1 ist vorbei, die Gäste sind heimgekehrt, und ich komme nun wieder in ein ruhigeres Gleis, in welchem ich auch Zeit finde, an Dich zu schreiben. Vor Allem haben wir Dir bestens zu danken, daß Du uns einen ebenso liebenswürdigen, als interessanten Gast in dem Dr. von Hofmann zugeführt hast. Die Damen waren insbesondere dankbar, daß sie ihn und nicht Dr. Freiherr von Scheurl bekommen haben, der an einem Mittag auch unser Gast war und sie in seiner Erscheinung über Gebühr erschreckt hat. Seine Bekanntschaft war mir von großem Werth; er verhielt sich zwar vorherrschend beobachtend und reservirt und sprach sich über die empfangenen Eindrücke wenig aus; es war aber jedes Gespräch mit ihm anregend und belehrend durch seinen scharfen Verstand und seine gediegene Bildung. Es wird mir von Interesse sein, von Dir zu erfahren, wie er sich in Deiner Heimath über seinen hiesigen Aufenthalt und die Ergebnisse der Versammlung ausgesprochen hat.
Zu unserer großen Freude und Ueberraschung kam auch der gute Onkel Gottlieb als unerwarteter Gast in unser Haus; er kündigte sich erst am Montag2 durch ein Telegramm aus Leipzig an. Wo es sich um die deutsche Freiheit handelt, läßt es ihn auch nicht ruhig zu Hause sitzen, und außerdem erscheint ihm die Macht der ultramontanen katholischen Kirche so gefahrdrohend, daß sie trotz aller Antipathie einen Halt in Preußen suchen. Vielleicht sollen die deutschen Kirchen durch den gemeinsamen Feind in Rom ebenso gereinigt werden, wie das deutsche Kaiserreich durch den französischen Erbfeind zu Stande gebracht worden ist. Ich fand den lieben Onkel auch alt geworden; doch war er sehr mobil; bei allen Gesprächen verhielt er sich rücksichtsvoll und kam es zu keinen straffen Gegensätzen. Er blieb bis zum Freitag3 Morgen, und wollte dann noch in Leipzig Station machen.
Ueber den Verlauf der Versammlung werden Dich die Zeitungen unterrichtet haben. Was das Resultat anbetrifft, so hätte bei einer freieren, festeren und geschickteren Leitung und Vorbereitung mehr erzielt werden können; es fehlte dazu aber den leitenden Geistern an Einigkeit, Kraft und Muth, und auch das Präsidium war formell in den zu schwachen Händen des alten Bethmann-Hollweg. Daher sind die Ergebnisse wenig zusammengefaßt und greifbar. Indessen ist es doch von großer Bedeutung, daß die Versammlung zu Stande gekommen, daß sie aus allen Landeskirchen eine überraschend große Theilnahme gefunden, daß sie ein lebendiger Ausdruck des Bedürfnisses der Einheit der deutschen evangelischen Kirchen gewesen und daß sie sich im nächsten Jahre, und zwar in Dresden wiedersehen wird. Der Protestanten-Verein ist mit Recht ausgeschlossen geblieben; dagegen hat das lutherische Bekenntnis seine nachdrückliche Vertretung gefunden, und es war nur ein bedauerliches Ungeschick von Wangemann, daß er sich in eine ausführliche Charakteristik der schwankenden Kirchenpolitik des Preußischen Regiments in einer Versammlung ausließ, welche doch nicht den preußischen Hader auszutragen bestimmt war, sondern ganz Deutschland vertreten sollte. Jedoch ist es jedenfalls richtig, daß ein engerer Verband der übrigen deutschen Kirchen mit der preußischen nicht möglich sein wird, solange nicht die preußische Kirchenverfassung im Wesentlichen geordnet ist. Immerhin sind diejenigen, welche, wie ich, vorher sich zu der Versammlung ziemlich indifferent verhielten in der preußischen Gewohnheit, sich ziemlich ausschließlich nur mit Preußen, seinen Zuständen und Bedürfnissen zu beschäftigen4 – denn die Idee der deutschen Nationalkirche ist nicht auf eigentlich preußischem Boden gewachsen; sie wird hier vielmehr von den eingewanderten Schwaben, wie Hoffmann, zu acclimatisiren gesucht –, wir sind doch durch den in der großen Theilnahme der außerpreußischen Kirchen kundgegebenen mächtigen Drang zu einer engeren Gemeinschaft der Evangelischen in Deutschland sympathisch ergriffen worden.
An die allgemeine Kirchenversammlung schlossen sich am Freitag und Sonnabend noch Konferenzen des Evangelischen Ober-Kirchenraths mit den anwesenden Konsistorial-Präsidenten und General-Superintendenten der acht altpreußischen Provinzen5 an; es wurden hier eine Zahl von Fragen und Anträgen in Betreff der inneren Kirchenverwaltung berathen, zum Theil von erheblichem praktischen Interesse; das Ergebnis war aber auch nicht sehr ergiebig. Es ist leider mattselige Beschränktheit das Gepräge unseres Kirchenregiments; es sucht sich bei den großen Schwierigkeiten der Zeit, welche mit gewaltiger Aufregung der Gemüther und bei hoch ge- spanntem Mißtrauen der Partheien, welche in verschiedenen Sprachen reden und sich nicht mehr verstehen können, mit schwachen Mitteln von Tag zu Tag durchzuhalten. Diese Situation erinnert mich lebhaft an die Jahre vor 1848; wie damals der Staat scheint mir auch die Kirche einer ähnlichen Katastrophe entgegen zu gehen.
Der Reichstag ist nun auch heute wieder eröffnet worden6; es fehlt daher nicht an öffentlichem Leben; die staatliche Einheit Deutschlands gewinnt augenscheinlich immer mehr an tieferer Befestigung; nur wünschte ich dabei einen Größeren Einfluß des gewöhnlicheren Liberalismus; die großen praktischen Bedürfnisse und Nothstände der Zeit werden ihm hoffentlich die nöthigen Schranken setzen. In dieser Hinsicht war der Vortrag des National-Oekonomen Wagner7 auf der Kirchenversammlung von eminenter Bedeutung.
Zum Reichstag wird auch mein Schwager Adalbert heute hier wieder eintreffen; ihn begleitet seine Frau Ella, welche zur Hochzeit ihres Bruders Georg ihre Eltern besuchen will.
In unserer Wohnung sind wir jetzt vollständig eingerichtet; sie ist geräumig, bequem und freundlich in ihrem neuen Schmuck; nur fürchte ich, daß sie im Winter kalt sein wird. Die Unsrigen sind alle, Gott sei Dank, wohl und ich spüre doch auch, daß Johannisbad mich erfrischt und gekräftigt hat.
Du wirst nun wohl auch alle Deine Kinder wieder im Hause beisammen haben; wie mag es mit Georg ausgefallen sein? Hoffentlich ist er durchgekommen und läßt sich dann erwarten, daß er mit den fortschreitenden Jahren sich innerlich mehr sammeln und kräftigen werde.
Die herzlichsten Grüße von Clara und meinen Kindern; Willi macht sich nun an seine juristischen Studien und hoffe ich, daß er auch dazu immer mehr Lust gewinnen wird.