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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 27. November 1871

Lieber Karl!

Deine Anfrage1 an Ebeling habe ich von ihm auf der gegenüberstehenden Seite beantworten laßen und darunter auch seine Adresse genau angegeben, damit Du, wenn es Deinen Wünschen entspricht, einen direkten Verkehr, welcher auch rascher zum Ziele führen wird, mit ihm anknüpfen kannst. Er ist ein anständiger und zuverlässiger Mann, welcher auch als solcher behandelt sein will, Dir aber, so wenig wie ein Anderer, für gute spätere Kurse und Zinsen der gelieferten Effekten Bürgschaft leisten kann. Ich theile von Herzen Deine dankbare Freude über die reichlichen Zuwendungen, welche Du aus dem Nachlasse des guten Onkels Siegmund empfangen hast. Ein solcher Zuschuß aus eigenem Vermögen ist für Beamte und Gelehrte heutigen Tags bei der wachsenden Theuerung und zunehmenden Bedürfnisse der Menschen eigentlich gar nicht zu entbehren. Wir befinden uns darin, wie in allen übrigen Verhältnissen des öffentlichen Lebens in einem Umschwung und einer Umgestaltung, bei welchen wir Aelteren, die in anderen Ordnungen und Zuständen aufgewachsen sind, mit Bedenken und Sorgen in die Zukunft schauen und es der jüngeren Generation überlassen müssen, sich darin in eigener Weise durchzuschlagen. Diese Sorgen klingen auch in der Rede von Hofmann hindurch2; er hat sie mir unter Kreuzband zugeschickt und ich bitte Dich ihm dafür meinen herzlichen Dank auszusprechen. Der Schluß der Rede ist allerdings herbe, und muß, da ihm auch jeglicher Ausdruck einer beruhigenden Hoffnung fehlt, auf die Zuhörer einen peinlichen Eindruck zurückgelassen haben. Der geschilderte Zustand ist ein Zeichen der Zeit, welches auf allen eigentlich geistigen Gebieten hervortritt; sie werden zurückgedrängt und erdrückt von der Macht der materiellen und der politischen Interessen. Es tritt dies auch besonders auf dem religiösen Gebiet hervor, da vornehmlich die Verfassung der Kirche und ihre Stellung zum Staate Gegenstand des Kampfes geworden ist. Das Opfer dieses Kampfes wird unser armes Volk in seinem religiösen und sittlichen Leben sein. Der Konflikt mit der katholischen Kirche ist unstreitig durch das unglückliche Concil3 und die Infallibität4 des Papstes provoziert, und wenn auch die Ultramontanen eine feindselige Gesinnung gegen das neue protestantische Kaiserthum des deutschen Reiches offenbarten, so war es doch unseres Erachtens nicht nöthig, nun den offenbaren Krieg mit der katholischen Kirche zu eröffnen. Man darf nicht vergessen, daß sie eine christliche Kirche ist und trotz aller Mißbräuche eine höchst bedeutungsvolle Wachsamkeit zur sittlichen Erziehung des Volkes äußert. Wo sie gestört wird, verfällt das Volk in Unglauben und wird eine Beute der sozialistischen Demokratie. Die evangelische Kirche wird darin keinen Gewinn haben; sondern sie wird ebenso in dem Kampfe gegen Religion und Christenthum überhaupt über den Haufen geworfen. Darum habe ich auch das neue Reichsstrafgesetz gegen die politischen Agitationen der katholischen Priester5 nicht mit Freude aufnehmen können; muß man auch zugeben, daß sie jedes Maaß überschritten und daß die Bischöfe sie befördern oder wenigstens nicht verhindern, wie es ihre kirchliche und regimentliche Pflicht wäre. Es entspricht aber doch mehr den liberalen Grundlagen und Prinzipien des modernen Staates solche Bewegungen, mindestens ebenso sehr wie die Aeußerungen und Unternehmungen der Demokraten und Sozialisten in Vereinen, Versammlungen und in der Presse und wie die Freilassung der Unzucht in allen Erscheinungen des öffentlichen Lebens, ihrem eigenen Prozesse zu überlassen; sie würde gewiß durch ihren eigenen Verlauf das Ansehen und den Einfluß der Kirche untergraben. Jenes Kathedergesetz6 wird sicherlich auch gelegentlich als eine nützliche Waffe gegen die evangelische Kirche benutzt werden, wenn diese einst in der Lage sein wird, sich gegen kirchenfreundliche Maaßregeln der Regierugen und gegen Gewaltthaten des Staates zu wehren. Der Kampf hat nun aber angefangen und er wird sich wahrscheinlich zu einem tief einschleichenden Kriege zwischen Kirche und Staat entwickeln, von welchem gleichfalls die evangelische Kirche erfaßt werden wird. Unstreitig hat dieser Prozeß den Erfolg, das deutsche Reich fester zusammen zu schmieden, und aus diesem Grunde ist gewiß Bismark besonders geneigt gewesen, der beim Reiche Hülfe suchenden bayerischen Regierung entgegenzukommen.7 Wir müssen hoffen und vertrauen, daß das durch innige Verschmelzung aller Glieder geeinigte deutsche Reich auch diesen neuen großen Aufgaben der Zukunft gewachsen sein werde. Die Noth wird zuletzt auch zum Beten treiben, und wir haben es getrost unserem Herrgott zu überlassen, ob Er unserem Vaterlande die uns vielleicht zum Heile treibende Noth von den Sozialisten oder von äußeren Feinden etwa Franzosen und Russen zuführen will.

In der Kreuzzeitung vom letzten Sonnabend8 hat eine sehr eingehende und anerkennende Besprechung Deiner Straßburger Chroniken9 gestanden; wenn Du den Artikel noch nicht gesehen, so wirst Du mit Befriedigung davon Kenntniß nehmen.

In meinem Hause sind alle Glieder, Gott sei Dank, wohl und munter. An manchen flüchtigen Vorgängen darin hat es nicht gefehlt. Am Freitag vor acht Tagen10 wurden unsere Räume zum ersten Male einer größeren Gesellschaft eröffnet; es waren vornehmlich geistliche Elemente, 3 General-Superintendenten und 3 Consistorialräthe mit Frauen, im Ganzen 34 Personen. Die neue Wohnung gewann allseitigen Beifall. – Gegenwärtig haben wir meine Schwägerin Ella aus Arolsen in Herberge, welche ihre Geschwister in der Uckermark besucht hat. Eine große Ueberraschung aber war es, als uns Madame Kühne besuchte, eine Französin jüdischen Glaubens, welche der ambulance11 in Vendôme vorstand, in der Willi nach seiner Verwundung12 verpflegt und auch von ihr mit liebevoller Theilnahme behandelt wurde. Sie hat sich in Frankreich der Pflege der Verwundeten mit großer Aufopferung gewidmet und bereist nun die deutschen Festungen – bis nach Danzig und Neisse – um die noch zurückgebliebenen verwundeten oder kranken französischen Gefangenen, noch mehr aber um wegen Vergebungen als Sträflinge zurückgebliebene Franzosen aufzusuchen. Sie ist eine ebenso gebildete, als thatkräftige Dame.

Clara läßt der lieben Susanna für ihren ausführlichen Brief herzlich danken, und sendet Euch und allen Euren Kindern mit den Meinigen die freundlichsten Grüße.

In herzlicher Liebe
Dein Bruder
Immanuel