Deinen freundlichen Brief vom 15ten vorigen Monats1 hätte ich gern schon früher beantwortet, wenn nicht hier durch kirchliche, politische und persönliche Vorgänge immer Zeit und Kräfte überreichlich in Anspruch genommen würden. Anstatt nach dem großen welthistorischen Kriege eine Periode ruhiger Erholung und des Friedens genießen zu können, sind wir unerwartet in die aufregendsten kirchlichen Bewegungen hineingerissen und es brennt an allen Ecken und Enden. Der Abgang von Mühler war ein von allen Partheien ersehntes Ereigniß2; selbst der König, welcher sich sonst zu einer solchen Veränderung schwer entschloß, sah sich genöthigt, ihm eine Eröffnung zugehen zu lassen, die sein Abschiedsgesuch unvermeidlich machte. Mühler hatte in erster Linie das Bestreben sich und seine Frau im Ministerium zu erhalten und diesem Wunsche brachte er Alles zum Opfer. Daneben wurde er durch die offenkundige Einmischung seiner herrschsüchtigen Frau zu den ungeschicktesten Maaßregeln verleitet, die ihn zum Gespött der Welt machten und ihm die öffentliche Achtung raubten. In der kirchlichen Verwaltung suchte er in den kleinsten Dingen jeden Konflikt zu vermeiden, und wir waren in den nothwendigsten Aktionen lahm gelegt; hauptsächlich war er bei seiner Unentschlossenheit und dem Hin- und Herschwanken in den vielfachsten Rücksichten zu einer Fortbildung der Kirchenverfassung unfähig, und durch ihn sind zehn unschätzbare Jahre für dieselbe verloren gegangen3; es ist dies ein schwerer Schaden in einer Zeit, da wir vor Allem einer selbstständigen Vertretung der Kirche zu ihrer Ver- theidigung und zum Erkämpfen ihrer Selbstständigkeit unter Wahrung ihrer Rechte bedurften. Wie er freilich nun an Ruf und Ehre, an Leib und Seele ruinirt endlich ausgeschieden ist, wird er zum Gegenstand des Mitleidens; und dieses hat mich besonders bewegt, als er mich am Tage vor seinem Abschiede noch besuchte. Die schlimmste Strafe ist, daß er den Satan von Weib behalten hat.
Ueber seinen Nachfolger Dr. Falk muß man sich jedenfalls eines voreiligen Urtheils enthalten; es kann nicht leicht Jemand in eine schwierigere Lage hineinkommen, wie er, um so mehr da ihm die Fach- und Personalkenntnis abgeht, die sein Vorgänger besaß. Dem Liberalismus wird er wohl einigermaaßen zuneigen, wenn er auch nicht kirchenfeindlich ist. Es ist zu erwarten, daß er mit Bismark beabsichtigt, einerseits der katholischen Kirche entschieden entgegen zu treten und wenn nöthig, diesen gefährlichen Kampf zu unternehmen, andererseits der evangelischen Kirche zu einer selbständigen Verfassung zu verhelfen. Ich würde hierbei schon einige demokratische Grundsätze mit in Kauf nehmen, wenn nur qualifizirte Personen zur Durchführung berufen und dabei eine angemessene Dotation erwirkt wird. Möchte nur den in der Vorbereitung begriffenen Plänen nicht zu sehr die Sachkenntniß fehlen und sie nicht in sehr gewagte Experimente auslaufen. Die Spannung der kirchlichen Partheien ist so groß, alle Gemüther sind in religiösen Fragen so reizbar und leidenschaftlich, man ist gegenseitig so sehr von Mißtrauen erfüllt, daß nur volle Klarheit der Prinzipien und feste Entschiedenheit bei sicherer Beherrschung des geistigen Stoffs zum Ziele gelangen kann. Die Gefahren eines unbedachten Vorgehens auf diesem Gebiete erfährt die Regierung bei dem Schulaufsichtsgesetz. Das praktische Bedürfniß in der gewiß sehr nöthigen Hebung des Volksschulwesens, besonders in den östlichen katholischen Landestheilen und die Abwehr der dabei von der katholischen Kirche bereiteten Hindernisse konnte in der Hauptsache durch die Mittel einer kräftigen und thätigen Verwaltung erreicht werden, und es wird auch künftig hauptsächlich hierauf ankommen; statt dessen ist in dem Gesetzentwurf ein abstraktes Prinzip, ganz unvermittelt und unbeschränkt hingestellt worden, welches in der allgemeinen Möglichkeit seiner gesetzlichen Anwendung alle Glieder der katholischen wie auch der evangelischen Kirche aufregen mußte, während doch von der Regierung die Versicherung gegeben wurde, daß es nur in seltenen Fällen zur Ausführung kommen soll. Der katholischen Kirche gegenüber wirken Drohungen wenig; man muß vielmehr suchen, wie man ihr praktisch beikommen kann. Nun der Kampf mit ihr einmal angefangen ist, läßt sich die Dimension der weiteren Entwicklung nicht übersehen. Es ist eine tief greifende Zerrüttung des sittlichen Volkslebens zu befürchten; die Waffen des Staats finden in den religiösen und kirchlichen Kämpfen ihr Ende in der äußeren Gewalt. Der katholischen Kirche gegenüber hat nur die evangelische Wahrheit eine siegende Kraft bewiesen; die evangelische Kirche aber ist jetzt lahm und vom Staate gebunden, und wird dabei vom Liberalismus unterwühlt. Augenblicklich bin ich selbst in den Skandal von Lisco und Sydow verflochten; sie und ihre Freunde waren der Meinung, daß der Moment zum Sturm gekommen sei; während sie sich bisher mit verhaltenem Grimm vorsichtig hielten, sind sie jetzt dreist hervorgetreten. Der Sturm, den sie erregt, macht sie doch wieder etwas besorglich um ihre Existenz und sie suchen einzulenken. Wir sind auch seither dem Konflikt möglichst aus dem Wege gegangen, da wir sehr wünschen, bei der unvermeidlichen Auseinandersetzung der Kirche mit dieser Parthei die Provinzial-Synode zur Hülfe zu haben. Bei der Dreistigkeit jenes Angriffs erschien es mir aber geboten, gegen sie fest vorzugehen. Leider haben mich Brückner und Hoffmann darin nicht unterstützt, und die Mitwirkung des ersteren ist um so weniger zu entbehren, als er General-Superintendent von Berlin ist. Die Absetzung der beiden Männer würde freilich einen großen Sturm mit aller Welt, Magistrat, Landtag etc. hervorrufen, den die Regierung und auch der König sehr zu vermeiden wünschen. Es wird daher die Sache wahrscheinlich mit wohlfeilen Ausreden auf der einen Seite und mit wirkungslosen Ermahnungen auf der anderen zugeschmiert werden, zum Schaden des Vertrauens und der Achtung des Kirchenregiments.
Aus meinem Hause habt Ihr durch Clara und Marie nähere Nachrichten erhalten; es ist, Gott sei Dank, Alles wohl und jeder in seinem Theile zufrieden. Willi studirt fleißig Pandekten; der Bräutigam Rudolf kommt alle 14 Tage von Stettin und ist auch heute wieder zum Besuch hier. Das junge Brautpaar lebt glücklich im ersten Liebesfrühling. Schwager Adalbert ist auch wieder anwesend, und zwar zu einer wichtigen Entschließung: einerseits ist ihm die Stelle des Landdrostes in Aurich, Ostfriesland offerirt; andererseits hat Bismark ihn zum Minister des Fürsten von Lippe-Detmold designirt, und so schwierig und unangenehm diese Stelle ist, wird er sich ihr doch schwerlich entziehen können. Im nächsten Monat erwarten wir Schwager Herrmann aus Lautensee zu einer Reise nach dem Süden um seiner Gesundheit willen, doch mehr aus Vorsicht, als aus dringender Nothwendigkeit.
In der Anlage4 übersende ich Dir Dein Konto und stelle die Verfügung über den Baarbestand anheim, ob ich ihn Dir senden soll.
Herzliche Grüße der lieben Susanna und Deinen Kindern, auch der lieben Tante Maria, von der wir einen sehr freundlichen liebevollen Brief empfangen haben.