XML PDF

Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 15. Mai 1872

Lieber Karl!

Du theilst uns in Deinem Briefe vom 23sten vorigen Monats1 mit, daß Ihr schon Ende Sommer Hochzeit zu halten gedenkt, und verbindest damit die freundliche Anfrage, ob wir wohl dazu hinkommen würden. Ihr werdet überzeugt sein, daß wir dies von Herzen gern thun werden, aber es ebenso erklärlich finden, wenn wir jetzt nicht im Stande sind, einen bestimmten Vorsatz zu fassen und ein Versprechen zu geben. Der Verlauf und die Entwicklung der nächsten Monate ist für mich noch gänzlich dunkel, da ich von allen Seiten gebunden bin. Von wesentlichem Einfluß wird der Gang der Sydowschen Disciplinarsache sein, welche ich, so viel es an mir liegt, beim Konsistorium zum Abschluß bringen muß. Das Konsistorium hat die Eröffnung der Disciplinar-Untersuchung beschlossen und die Anklagepunkte festgestellt. Bevor dies aber dem Sydow kund gegeben worden, ist der Evangelische Ober-Kirchenrath nach vielen vorhergegangenen Bemühungen, die Sache zu verschleppen, dazwischen getreten und hat das Verfahren mit Rücksicht auf die angeordnete Konferenz der Konsistorial-Präsidenten und General-Superintendenten sistirt, da hier über die Grenzen der Lehrfreiheit berathen werden sollte. Die Konferenz hat stattgefunden, und wenn die Besprechung auch ganz interessant war, so hat doch, wie zu erwarten, über die theoretisch unlösbare Frage ein bestimmter Beschluß nicht gefaßt werden können. Es war dies wohl überhaupt nur ein Mittel, Aufschub zu gewinnen, und wir sind nun der weiteren Entschließung des oberen Kirchenregiments gewärtig, deren Tendenz mir völlig verborgen ist. Es herrscht hier ein unsicheres Schwanken, eine Unklarheit des Wollens und ein noch größeres Unvermögen des Könnens, bei welchem das eigentliche Regiment der Obrigkeit aufhört und die Anarchie immer mehr Raum gewinnt, wie wir dies vor 1848 im Staate erlebt haben. Die öffentlichen Demonstrationen sind bereits im vollen Flusse und vermehren die Begriffsverwirrung, wie wir dies schon im Jahr 1847 bei Wislicenius und Uhlich und den Lichtfreunden erlebt haben. Die Liberalen suchen die Meinung zu verbreiten, als ob der Glaubens-, Denk- und Lehrfreiheit Gewalt angethan werden solle, während wir uns nur verpflichtet halten, die Kirche als eine friedliche Anstalt zu wahren, welche nicht einen Geistlichen im Amte belassen kann, welcher die Gottheit Jesu Christi läugnet, während er das Evangelium nach dem Worte Gottes und den christlichen Bekenntnissen verkündigen soll. Wir haben den jetzt drohenden verhängnisvollen Konflikt nicht herbei geführt; er ist völlig begründet in der unvermeidlichen Entwicklung der Kirche; die Gegensätze können nicht mit und nebeneinander mehr in der Kirche vereinigt bleiben. Was hierbei das bestehende Recht und die Pflicht des Kirchenregimentes aber gebieten, ist mir nicht zweifelhaft, und ich gehe mit ganz ruhigen Gewissen und ohne Menschenfurcht in den Kampf hinein. Es ist sehr wohl möglich, daß ich dabei vor den Menschen und der Welt zu Schanden werde, und den Sieg des Rechtes und der Wahrheit in unserer evangelischen Kirche nicht erreiche; es wird aber unwandelbar mein Bestreben sein, nicht vor Gott, dem Herrn treu erfunden zu werden, um in Frieden sterben zu können. Ich wünsche nur, daß meine Kräfte ausreichen, um der mir zugefallenen großen und schweren Aufgabe genügen zu können; ich habe sie auch selbst in unserem Konsistorium unter den heftigsten Kämpfen, besonders mit Brückner in der Hauptsache zu tragen und zu erfüllen, und bin schon jetzt ganz mürbe davon gemacht. – Bei dem Schulaufsichtsgesetz bin ich auch ganz unerwartet Gegenstand der heftigsten Angriffe geworden; die Leute hatten wohl erfahren, daß ich den Erlaß des Konsistoriums gemacht hatte: indessen war das Kollegium damit einstimmig, auch Hoffmann und Brückner, ganz einverstanden, und es war nothwendig, damit sofort und mit Entschiedenheit vorzugehen, da wir sonst auch, wie jetzt in Hannover, eine Anzahl der niederlegenden Erklärungen der Geistlichen gehabt hätten. – Unserer Meinung nach haben wir dadurch der Regierung einen großen Dienst geleistet; den Liberalen war es aber zuwider und ein Schlag ins Gesicht, weil sie von dem Gesetz nichts mehr als die gewünschte Trennung der Schule von der Kirche erwartet hatten. Ich habe in dem beiliegenden Artikel2 der Kreuzzeitung den ersten Ausbrüchen der liberalen Zeitungen geantwortet. Mit Minister Falk bin ich freilich dadurch in Konflikt gerathen; das kann mich aber nicht irre machen. Ich werde gewiß bemüht sein, mich mit Vorsicht in den Schranken meiner Pflicht und Kompetenz zu halten; seinem Liberalismus kann ich mich aber nicht anschließen, und ich bin auch fest überzeugt, daß er in diesem Dienste der liberalen Parthei, in der Auffassung und Behandlung der evangelischen Kirche und noch mehr in dem unüberlegten Kampf mit der katholischen Kirche über kurz oder lang gänzlich zu Schanden werden wird. In den Angriffen gegen die katholische Kirche ist er auch nur das Werkzeug der leidenschaftlichen Ausbrüche von Bismark, der sich hier auf ein Gebiet  begeben hat, welches er nicht versteht und nicht beherrscht. Wenn aber die Regierung in kirchlichen Fragen der Leidenschaft die Zügel schießen läßt, so gelangt noch viel mehr in der öffentlichen Meinung eine Aufregung zur Herrschaft, die nur erst nach den heftigsten und revolutionären Ausbrüchen zu einer Abklärung führen kann.

Der alte Mathis hat um seine Verabschiedung zum 1sten Juli nachgesucht; er ist in der That elend und auch schlau genug, sich vor den drohenden Ungewittern in der Kirche rechtzeitig zurückzuziehen. Wer zu seinem Nachfolger berufen werden wird, ist gar nicht vorauszusehen; jedenfalls ich nicht, sondern vermuthlich ein indifferenter Jurist. Ich danke auch Gott, daß, wie ich hoffen kann, damit verschont bleibe; mir fehlt dazu schon die physische Gesundheit, und würde auch innerlich dabei zu Grunde gehen.

Ich habe ein dringendes Verlangen nach Ruhe und Erholung, und da mir im vorigen Jahre Johannisbad gut gethan, so wünsche ich es wieder zu gebrauchen, werde aber wohl erst im August dahin gehen können, mit Frau und Töchtern. Willi, der jetzt zu Pfingsten3 einer Einladung von Mangelsdorf nach Leipzig Folge leistet, will mit dem Beginn der Ferien seine Germanen in Göttingen und dann Onkel Adalbert in Detmold besuchen, um ihn bei seinem schweren Werk, den Frieden im Lande herzustellen4, wenn nicht zu helfen, doch zu erheitern. In meinem Hause wird vermuthlich Anfang Oktober Hochzeit gefeiert werden, wenn die Kinder bis dahin ein festes Domicil gewonnen haben; Rudolf hofft bei einer Regierung eintreten zu können. Es wird uns eine große herzliche Freude sein, wenn Du mit der lieben Susanna und Eurer Anna uns zur Hochzeit besuchen möchtet.

Eure Briefe bezeugen, wie sehr Ihr Euch mit Eurem Schwiegersohn zu einer herzlichen Gemeinschaft zusammenlebt und wir nehmen warmen Antheil an der Befriedigung, die Ihr darin findet. Man lernt immer mehr den Wert und Frieden des häuslichen Glücks schätzen, je mehr uns die äußeren Wirren 5 und bedrängen. Darum betrübt uns aber ebenso sehr die schwere Sorge, die bei Deinem Georg auf Dir lastet; man hatte hoffen dürfen, daß doch mit den Jahren sich ein gewissenhaftes Pflichtgefühl in ihm befestigen würde, und man wird auch nicht verzweifeln dürfen, daß doch endlich Deine väterliche Zucht und Liebesarbeit ihre Frucht bringen werden. Es tritt doch oft beim Ausharren in der Geduld und Treue eine entscheidende Wendung bei solchen schwierigen Naturen ein; Gott gebe, daß Du dies bald an ihm erleben möchtest!

Unser Clärchen ist seit 3 Wochen bei einem Pfarrer Menzel zu Kalkwitz in der Nieder-Lausitz; seine Frau war als Emma Dobbelschein im Jahr 1860 ein Semester lang in meinem Hause als Gouvernante; bei einem Besuch, den sie uns hier machte, haben wir auf ihre Einladung ihr das Kind gern anvertraut. Nach Pfingsten wird sie zurückkommen und schreibt uns euphorische glückliche Briefe über ihre ländlichen Vergnügungen.

Herzliche Grüße der lieben Susanna und Deinen Kindern, insbesondere dem glücklichen Brautpaar. Clara hat sich über den langen Brief Susannas herzlich gefreut und wird ihn bald beantworten.

In treuer Liebe Dein Immanuel

P. S. Die allgemeinen Gehaltsverbesserungen haben mir auch eine erwünschte und dringend nöthige Zulage von 300 Taler gebracht; das Leben wird hier unerträglich theuer.