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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 3. Juli 1872

Lieber Karl!

Herzlichen Dank für Deinen lieben Brief1, der uns gute Nachrichten aus Deinem Hause bringt. Ihr seid nun schon in der vollen Vorbereitung zur Hochzeit, während bei uns dieser Sturm erst im Herbst losbrechen wird. Ende Juli wird unser Bräutigam nach Posen übersiedeln, wo er bei der dortigen Regierung als Assessor eintreten wird. Er hat dann dort noch das erste Erforderniß zur Begründung eines Hausstandes zu beschaffen, das ist eine Wohnung, welche auch hier, wie überall, rar und theuer sein wird. Demnächst wird erst über die Hochzeit Beschluß gefaßt werden können; der Wunsch des Brautpaars ist es, daß sie Anfang Oktober statt finden möchte. Sobald dies entschieden sein wird, werden wir Euch mit dem herzlichen Wunsche Nachricht geben, daß Ihr das Fest mit Eurer Anwesenheit ehren möchtet. – Es thut uns sehr leid, daß wir uns diese Freude bei Eurem Hochzeitsfest versagen müssen; es läßt sich aber schlechterdings nicht einrichten, da ich, sobald ich mit Anfang August meinen Urlaub antreten kann, nothwendig die Kur, die mir in Johannisbad vorgeschrieben ist und der ich dringend bedürftig bin, unverzüglich beginnen muß. Ich werde dazu jedenfalls 5 Wochen nöthig haben, und dann bei der vorgeschrittenen Jahreszeit auch beeilen müssen, sowohl zu meinem Amte, als nach Hause zurückzukehren, da die Vorbereitungen zur Hochzeit, insbesondere die Beschaffung der Ausstattung eifrigst betrieben werden sollte. Meine Kräfte waren nach Ablauf des Winters sehr verbraucht, und meine Nerven sind sehr angegriffen, so daß ich in meiner ganzen Thätigkeit mich gehemmt finde; auch will mich ein hartnäkiger Katarrh nicht verlassen. Das beste Mittel wird wohl Ruhe und bequemes Ergehen in frischer Gebirgsluft sein, und das erfrischende Bad in Johannisbad wird hoffentlich auch zur Stärkung beitragen. Meine Frau, so wie Marie und Clärchen können dies auch brauchen. Willi wünscht nach dem Schluss der Vorlesungen seinen Germanen in Göttingen und dazu Schwager Adalbert, den Minister in Detmold zu besuchen. Von diesem haben wir eben durch Schwager Herrmann nähere Nachrichten erhalten; er hat jetzt bessere Hoffnung das übernommene Friedenswerk zu Stande zu bringen, wenn auch die Zustände sehr verfahren und die Demokraten ihm mit unerfüllbaren Forderungen hartnäkigen Widerstand leisten.2 Mit seinem Fürsten ist er ganz zufrieden und auch sonst wird ihm fast von allen Seiten Vertrauen entgegengebracht. – Schwager Herrmann hatte sich längere Zeit in Meran, Lugano und Soden aufgehalten; seine Frau Pauline war dann mit ihm in Frankfurt zusammengetroffen und sie hatten sich zusammen über den Rhein nach Detmold begeben; jetzt kehren sie in die Heimath zurück. Herrmann machte uns doch einen traurigen Eindruck; die Stimme klanglos, permanentes Räuspern und Husten, und der Körper in hohem Grade abgemagert; er meint, daß seine Lunge sich wesentlich gebessert habe und eigentlich nicht leidend sei; uns erscheint aber doch sein Zustand sehr bedenklich.

Zur Ausrüstung Deiner Tochter wirst Du auch Geld nöthig haben; ich beeile mich deshalb Dir den Bestand Deines Kontos mit rund 175 Talern zu schicken, nachdem ich die Restdividende Deiner 10 Köln-Mindener Aktien à 17 Taler 12 Silbergroschen erhoben habe. Nach der Quittung für die Schreibmappe von Zackmann3 habe ich gründlich gesucht; sie aber nicht gefunden, während ich die Ausgabe in meinem Rechnungsbuch notirt und auch alle Quittungen von 1870 aufgehoben habe. Ich muß daher annehmen, daß Du mir jene Quittung nicht geschickt hast. – Unsere Gehaltszulagen sind auch zur Vertheilung gekommen, und mir dabei 300 Taler jährlich zugefallen, die auch bei der für alle Lebensbedürfnisse stets wachsenden Theuerung keinen Ueberfluß ergeben. Es wäre daher sehr zu wünschen, daß auch die beabsichtigte Zuwendung von Reichsentschädigungen der Beamten in den großen Städten zur Ausführung käme.

Der alte Mathis ist mit dem 1sten dieses Monats als Präsident des Evangelischen Ober-Kirchenraths in Ruhestand getreten. Er hat für sich einen richtigen Zeitpunkt gewählt, da er altersschwach geworden ist, und auch die thatenlos vermittelnde Verwaltung, wie er sie geführt hat, sich nicht mehr fortsetzen läßt; es trifft ihn derselbe Vorwurf, wie Mühler, daß er für unsere Kirche eine kostbare Zeit hat fruchtlos verstreichen lassen. Die Wiederbesetzung seiner Stelle ist eine sehr schwierige Frage, welche wohl so rasch nicht wird gelöst werden. Ich bin daher glücklich, daß ich als eine unmögliche Person erscheine und daher eine Aufforderung an mich gewiß nicht ergehen wird. Diese Trauben sind mir in der That zu sauer; ich kenne die Verhältnisse zu genau, um die ungewöhnlichen Schwierigkeiten der Aufgabe wohl ermessen zu können, und würde daran physisch und innerlich zu Grunde gehen, ohne das erstrebte Ziel zu erreichen. Vor 7 Jahren wäre ich naiv genug gewesen, es zu unternehmen; auch war ich damals noch frischer und weniger verbraucht, wie jetzt; auch waren die Umstände bei weitem günstiger.4 Ich habe auch über die Absichten, die oben gehegt werden, gar nichts vernommen und vermeide jede Erkundigung, um nicht den Schein zu erwecken, als ob ich darnach trachte. Es ist aber nicht unwahrscheinlich, daß im Ober-Kirchenrath an Herrmann in Heidelberg gedacht wird, den man schon früher als Vice-Präsident gehandelt hat.

Die Sydowsche Sache wird im Konsistorium nicht vor dem Oktober zur Entscheidung kommen. Es verreisen die Mitglieder nach einander und dieselben müssen alle wieder vollzählig sein. Auch bedarf die Sache einer gründlichen Bearbeitung. Die Vertheidigungsschrift von Sydow ist heute eingegangen5; sie ist unerwartet kurz ausgefallen und nicht so freimüthig und selbstvertrauend und demonstrativ, wie ich vermuthet, und sucht die Anklagepunkte mit wenig Geschick zu verdunkeln. Es ist überhaupt auffallend wie verhältnißmäßig still und zahm die Parthei sich jetzt verhält; sie fühlen offenbar selbst, wie schwach ihr Rückhalt in den Gemeinden ist; die heutige Zeit verträgt kein halbes Wesen, sondern drängt überall zur Entschiedenheit.

Daneben schreitet nur der Kampf mit der katholischen Kirche unaufhaltsam fort zu einem gewaltige Brand und zu einer großen Zerrüttung des Volkes. Ich halte das Vorgehen der Regierung, welche sich von der Leidenschaft des Liberalismus treiben läßt, für ebenso unklug, als verderblich; es wird eine furchtbare Saat des Hasses gesäet, worüber Niemand mehr jubelt, als die Franzosen. Gegen die geistigen Kräfte der katholischen Kirche ist die weltliche Macht mit Polizei und Verfolgung wirkungslos; die werden dadurch nur innerlich gestärkt und dahin getrieben, ihre Kräfte zur Zerstörung des Staats zu verwenden. Die einzige Macht, welche sich gegen sie siegreich behauptet hat, ist der evangelische Glaube auf dem Boden deutscher Reformation.

Herzliche Grüße, auch von Clara und den Kindern, allen Gliedern Deines Hauses. Von der Zeit unserer Abreise werden wir Euch rechtzeitig Nachricht geben. In treuer Liebe

Dein Immanuel