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Karl Hegel an Immanuel Hegel, Erlangen, 16. Januar 1873

Lieber Manuel!

Unsere Anna wird heute den Brief ihrer Mama erhalten, welchen diese bereits auf die Post gegeben hatte, als der ihrige ebenfalls gestern ankam; sie wird sich also nicht länger über den kleinen Liebling Gottlieb beunruhigen, der wenn auch etwas bleich und mager, doch lustig in der Stube herumspringt. Sein Leiden, welches mich wegen des andauernden heftigen Fiebers zwei Tage lang besorgt machte, war doch nur ein Ohrenkatarrh, dessen Nachwirkungen auch noch nicht ganz überwunden sind.

Das von Dir übersandte Protokoll über Sydows Verhör habe ich mit Dank erhalten und auch einigen Collegen, Thomasius und Scheurl, mitgetheilt, welche mit Deiner Haltung sehr zufrieden sind. Nunmehr zieht der erkannte Vortheil der Suspension die erwarteten Folgen nach sich; gegen dasselbe protestiren nicht bloß der Stadtrath als Patron, sondern auch eine Anzahl von Geistlichen und eine noch größere von nicht zu errechnenden Mitgliedern der Gemeinden. Das Consistorium wird Recht haben als geistliches Gericht auf Grund der Satzung, allein das Gemeindebewußtsein lehnt sich gegen diese selbst auf und besteht auf dem Recht der freien Auslegung.1 Ich hoffe, man wird von beiden Seiten den Conflict nicht bis zum Schisma in der Staatskirche treiben, welche, so lange sie dies ist, den divergirenden Richtungen den weitesten Raum lassen muß. Und Sydow hat gewiß Unrecht, wenn er sich auf die Theologie, in welcher er herangebildet worden ist, und auf den ihr entsprechenden Standpunkt des früheren Kirchenregiments beruft!

Die neuen Falk‘schen Gesetzesentwürfe zur Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche ziehen gleichfalls die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Es ist wohl die höchste und letzte Zeit, dem Vordringen des ultramontanen Wesens und papistischen Götzendienstes Schranken zu setzen und die Rechte des Staats in Beaufsichtigung der geistlichen Strafgewalt und des geistlichen Unterrichts, wie die Bildung der Geistlichkeit selbst zu wahren. Wohin man mit der schwächlichen Toleranz und dem bloßen Gehenlassen des Pfaffenwesens und seiner Geistesknechtschaft kommt, sehen wir auch bei uns in der Nähe. Du wirst wohl bisweilen aus Auszügen unserer katholischen Blätter sehen, bis zu welcher Gemeinheit und unflätiger Rohheit die geistlichen Wortführer im Eifer des Kampfes fortgeschritten sind. Und ebendiese sind nicht minder die boshaftesten, heimtückischsten Widersacher des neuen deutschen Reichs, giftgeschwollene Feinde Preußens. Solchen Leuten ist das geistig versunkene und verdampfte katholische Landvolk unbedingt zur Bearbeitung und Unterjochung preisgegeben! Gegen sie Kampf bis auf Messer! nicht durch äußere Gewalt, sondern durch das scharfe Gesetz des Staats, welcher nicht bloß die Aufgabe hat, das Recht zu schützen, sondern auch die geistige Bildung des Volks zu fördern, die absurdeste Geistesknechtschaft mit seiner ganzen Macht von ihm abzuwehren.

Für die briefbedürftige, ja briefheißhungerige Tochter Anna lege ich noch einen Brief von Mimi bei und für ihre anderweitigen Bedürfnisse 10 Coupons zum Werth von 50 Thaler, wovon ich etwa 20 Thaler für den Arzt und 20 Thaler für die Singstunden rechne. Das Reisegeld werde ich außerdem zu seiner Zeit schicken. Es freut mich, daß sie so großen Genuß am Singen findet und will ich nur wünschen, daß dieser und die Frucht des wiederholten Unterrichts recht lange vorhalten mögen, länger als das erste Mal!

Innigen Antheil nehmen wir an den betrübenden Nachrichten von dem Befinden Deines Schwagers Hermann.

Ich schreibe eben einen Artikel über die Verlegung des königlichen Archivs von Nürnberg nach Eichstädt, der für die Augsburger Allgemeine Zeitung bestimmt ist. Es ist ein wahrer Scandal, daß Magistrat und Gemeindecollegium von Nürnberg dafür 20000 fl. Gulden an den Staat zahlen wollen, nur um Raum im Rathause zu bekommen: so werfen sie das Archiv der Reichsstadt2 fort als wäre es bloß überflüssiger Plunder! Vielleicht läßt sich noch etwas dagegen machen.

Ich grüße die liebe Klara und Eure Kinder, mit ihnen meine liebe Tochter Anna.

Dein Bruder Karl.