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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 9. Februar 1873

Lieber Karl!

Drüben lacht und scherzt das junge Volk am Sonntag Nachmittag und ich finde endlich eine ruhige Stunde, um Dir zu schreiben. Es drängt mich um so mehr dazu, als die liebe Anna nun zur Heimkehr in nächster Zeit rüsten will. Wir haben uns so sehr an ihre Gegenwart in ihrem stets lebendigen, heiteren und erfrischend anregenden Wesen gewöhnt, daß wir sie sehr vermissen werden und mit herzlichem Bedauern an ihr Scheiden denken; es wäre aber unrecht, sie noch länger zurückzuhalten, wenn auch jetzt zur letzten Stunde uns noch Manches einfällt, was ihr zum Nutzen und zur Freude hier noch dargeboten werden könnte. Leider hat die Kur bei Dr. Lucae keinen Erfolg gehabt, und wenn auch derselbe anzunehmen und zu behaupten scheint, daß seine Kur einer Verschlimmerung des Uebels vorgebeugt habe, so ist doch das Gehör für unsere Wahrnehmung unverändert geblieben. Jedenfalls habt Ihr die Beruhigung, auch dieses Mittel versucht und damit Eure Pflicht erfüllt zu haben. Dr. Lucae hat sich augenscheinlich alle erdenkliche Mühe gegeben und sie mit herzlicher Theilnahme behandelt, sich auch als aufrichtiger und gewissenhafter Arzt gezeigt. Was das Honorar anbetrifft, so habe ich es doch bedenklich gefunden, seine Liquidation zu verlangen; dieselbe hätte möglicher Weise sehr hoch nach den üblichen Taxen ausfallen und uns, namentlich aber Dir eine Verlegenheit bereiten können, da Anna nun außer dem Abschiedsbesuch 30 Besuche bei ihm gemacht und dabei mit den verschiedensten Manipulationen ohne alle Nebenausgaben, behandelt worden ist, so erschien uns das geringste Maaß, den Besuch durchschnittlich mit 1 Taler zu berechnen, und ich habe ihm demnach mit einem verbindlichen Dankschreiben 30 Taler geschickt, wofür er sich mit einer Karte und freundlichem Gruß bedankt hat. Ich glaube damit die Sache möglichst schonend für Dich erledigt zu haben. Allerdings ist in Folge dessen nach anliegendem Konto von Deiner letzten Geldsendung nur ein Rest von 6 Talern verblieben, den ich Anna für ihre Ausgaben ausgehändigt habe. – Wir werden die liebe Anna mit unseren herzlichen Wünschen in die Heimath begleiten, zugleich mit der Hoffnung, sie über einige Zeit wieder hier, so Gott will, bei uns aufnehmen zu können. Sie findet hier für ihr reges geistiges Interesse reiche Nahrung, wenn ihr auch überall die Schranke des Gehörs entgegentritt. Es ist dies auch für uns stets eine Quelle schmerzlichen Bedauerns, wenn sie auch die Last des Uebels durch ihre frische Heiterkeit und ihr klares Bewußtsein zu erleichtern bestens bemüht ist.

Aus unserem Leben im Hause wird Anna Euch manches berichtet haben; zum Glück, und Gott sei dank, haben wir uns in diesem Winter Alle abgesehen von kleinen Störungen bei guter Gesundheit erhalten; auch mein ständiger Katarrh, der mich nicht mehr zu verlassen scheint, hat sich in mäßigen Schranken gehalten und ich habe alle Arbeit und Kämpfe dieser Tage ganz gut bestehen können.  Bunt genug sieht es in der Welt aus und die muthwillig und unbedacht angeschürten Flammen greifen immer weiter um sich, wie überhaupt das Leben heute zu Tage einen rascher Prozeß verläuft sic!. Die Regierung mit Dr. Falk und den Liberalen scheinen mir dem Baumeister zu gleichen, der erstens einen Bau ohne gehörige Vorbereitung und vor der Anfuhr der Materialien beginnt, und zweitens die Kosten des Baus nicht gründlich veranschlagt und sich darin durch eine leichte Fantasie täuschen läßt. Die kirchlichen Gesetzentwürfe sind ohne Kenntniß des Wesens der Kirche und ihrer praktischen Bedürfnisse in überstürzter Eile gefertigt; sie bringen insbesondere die katholische Kirche in eine Lage, bei der sie in jedem Augenblick besorgen muß, nach Belieben des Staats, respektive der Oberpräsidenten erwürgt zu werden. Es ist dies kein Zustand, bei dem sie gesund leben und gedeihen kann. Gewiß ist ein Bedürfniß vorhanden, ihr Schranken zu setzen; wenn es aber so grob und roh, und mit so feindseligem Sinn angefangen wird, so muß das Unternehmen scheitern, und die katholische Kirche wird siegreich aus diesem Kampfe hervorgehen. Die Schweiz wird uns durch die Streiche, die dort in die Luft gegen sie geführt werden, vielleicht noch zur rechten Zeit eine belehrende Warnung geben.1 Ich beklage von ganzem Herzen den alten braven Kaiser, der in den letzten Jahren seines Lebens in diesen wüsten Konflikt hineingetrieben wird; er übersieht nicht die Folgen; man täuscht ihn mit der eitlen Hoffnung, daß die Bischöfe sich vor den Drohungen des Staats beugen und mit einigen Ordnungsstrafen von circa 1000 Talern zur Raison bringen lassen werden. Wenn sie aber, wie unzweifelhaft zu erwarten, nicht weichen werden, und sie mit weiterer Gewalt bezwungen werden sollen, so bin ich überzeugt, daß der alte Kaiser dann zu einem entscheidenden Punkt gelangt, seine Mitwirkung verweigern wird, und die Liberalen einsehen werden, daß sie die Rechnung ohne den Wirth gemacht haben. Die Jahre 1848, 1849 und 1850 sollten ihnen doch gelehrt haben, daß das Königthum auch sein eigenes Gewissen hat und nicht geneigt ist, alle ihre Kosten zu bezahlen.

In unserer evangelischen Kirche ist nun auch durch unsere Entscheidung wider Sydow der Entscheidungskampf zwischen Christenglauben und modernem Unglauben ausgebrochen. Es ist mir darin eine schwere Aufgabe zugefallen; ich habe sie nicht gesucht, und bitte Gott, daß Er mich dazu auch ferner mit der nöthigen Kraft und Weisheit ausrüsten möge. Wenn der Evangelische Ober-Kirchenrath unsere Erkenntniß bestätigt, so werden sich die Zustände rasch abklären und beruhigen. Wenn dies aber nicht geschieht, so wird eine tiefe Spaltung und Verwirrung eintreten, deren Folgen sich nicht absehen lassen, und wobei auch meine Stellung sehr bedenklich werden kann. Ich warte dies mit möglichster Ruhe ab und kämpfe inzwischen frisch und getrost weiter; an Unterstützung in der Kirche hierbei fehlt es mir nicht. Sehr überraschend war es mir, daß der alte Kaiser, als er mich beim Ordensfest2 ansprach, sich mit der Absetzung von Sydow ganz einverstanden erklärte; ich hatte dem Kabinettsrath eine Abschrift des Erkenntnisses zugeschickt, welches derselbe ihm vorgetragen hatte. Die Stimmung im Evangelischen Ober-Kirchenrath ist sehr zweifelhaft; sie wünschen es dort mit keinem Theile zu verderben, besonders nicht mit Dr. Falk und dem Landtage, von welchem sie Geld für die Synoden zu erhalten wünschen. Herrmann selbst ist auch liberal gerichtet; übrigens ein gebildeter und besonnener Mann, mit dem ich mich auch freundlich begrüßt habe. Er ist aber schlimm in die Dornen gesetzt, mehr als er es jetzt wohl noch meint.

Von den Kindern in Posen haben wir stets heitere gute Nachrichten; es war davon die Rede, daß Bitter Vater dort Oberpräsident werden sollte; er wird aber hier festgehalten. – Clara wird nächstens auch der lieben Susanna schreiben. – Mit herzlichen Grüßen und Wünschen Dein Bruder

Immanuel