Deinen lieben Brief1 aus dem freundlichen Thüringen, der uns von Eisenach aus überraschte, beantworte ich unverzüglich, um Dir zu Deinem bevorstehenden Geburtstage2 mein herzlichen brüderlichen Glückwünsche auszusprechen. Er bezeichnet diesmal einen bestimmten Abschnitt in Deinem Leben, zu welchem ich auch nahe heranrücke. Wir müssen uns dies beide gefallen lassen; es liegt einmal in Gottes Ordnung, und wenn auch meine Haare sich wieder einigermaaßen geschwärzt haben, so ist doch die frische Spannkraft verbraucht und an verschiedenen Ecken und Gliedern melden sich bei mir die Vorboten des Alters. Ich glaube, daß Du Dir im Ganzen eine größere Rüstigkeit bewahrt hast und ich wünsche von ganzem Herzen und erbitte es von der Gnade des Herrn, daß Du noch lange unbehindert und in Frieden in Deinem dankbaren Berufe mit der erwünschten Anerkennung wirken, und ferner möglichst ungetrübt Dich Deines glücklichen Hausstandes und an dem Leben und Gedeihen Deiner großen und kleinen Kinder erfreuen mögest. Es ist mir auch besonders beruhigend, daß auch Dein Georg sich in seiner Lebensordnung leidlich zurecht findet, und es scheint mir in solchem Falle schon viel gewonnen, wenn in Geduld und Liebe Zeit gewonnen wird, damit die Jahre einer größeren Reife und Tüchtigkeit erreicht werden. Hoffentlich wirst Du auch, wenn die Hoffnungen Deiner Tochter Luise in Erfüllung gehen, Dich der Würde des Großvaters bald in vollem Maaße erfreuen dürfen. Bei mir steht gleichfalls dies, obwohl das höhere Alter kennzeichnende, doch immer mit Dank und Freude anzunehmende Avancement in Aussicht, da auch meine Marie sich im Stande der guten Hoffnung befindet. Sie war davon bei ihrem Besuche in Berlin noch angegriffen, scheint aber jetzt diese Beschwerden mehr überwunden zu haben. Rudolf, ihr Gatte, welcher sich auch von seiner angestrengten Arbeit etwas zu erholen wünscht, will in der Mitte dieses Monats auf einige Wochen nach dem schlesischen Gebirge ziehen. Er ist ein frischer rüstiger thatkräftiger junger Mann, der, wenn er sich noch abgeschliffen und durchgebildet hat, eine tüchtige Kraft im Staatsdienst abgeben wird. Es ist dabei eine herzliche Freude zu sehen, wie die beiden jungen Eheleute in zärtlicher Liebe verbunden, fröhlich zusammenleben. Für ihren geselligen Verkehr und die amtlichen Verhältnisse ist es sehr erwünscht, daß mein Jugendfreund, William Günther Oberpräsident in Posen geworden ist. Er hat ein sehr behagliches Hauswesen im Güntherschen soliden Danziger Styl und seine Frau belebt es mit freundlichem und frischem Wesen. Er ist dagegen kränklich, verdrießlich und rücksichtslos, und wird die Herzen nicht gewinnen und sich über Polen und Katholiken gründlich ärgern, sich aber durch geschäftliche Tüchtigkeit und praktischen Sinn Achtung verschaffen. Auf schwere Kämpfe kann er sich, ebenso wie mein Freund Nordenflycht in Schlesien, gefaßt machen. Der letztere überragt den ersteren bei weitem durch Geist und Bildung und durch seine anregende und schaffende Kraft; aber leider macht er sich durch einen expansiven Hochmuth, den er bei aller Klugheit sehr zur Schau trägt, verhaßt. Man muß daher bezweifeln, ob er den Schlesiern, welche auf gemüthliches Wesen und freundliche Höflichkeit einen großen Werth legen, gefallen wird. Jedenfalls sind beide energisch anfassende Organe im Kampf mit der katholischen Kirche. Wenn auch die Regierung in der Ausführung der neuen Kirchengesetze sich großer Milde und Schonung befleißigen und gern die Aggression abwarten wird, so wird doch der unvermeidliche Verlauf zum vollen Bruch führen und es als eine Inkonsequenz und Geständniß der Schwäche erscheinen, wenn die Regierung sich auf Einziehung der Dotationen beschränken und die Bischöfe nicht sammt und sonders absetzen wird. Gewiß ist es zu beklagen, wenn, wie zu erwarten steht, die katholische Kirche aus diesem welthistorischen Konflikt innerlich bekräftigt und mit großem Gewinn an Ansehen und Macht hervorgehen wird. Der Grund liegt aber darin, daß der Staat ohne Verständniß und Würdigung der Bedeutung und geistigen, wie äußeren Kräfte der Katholischen vorgegangen ist. Die evangelische Kirche kann ihm aber dabei nicht beistehen, weil er den Kampf nicht im evangelischen Geist und mit evangelischer Wahrheit führt, sondern eine Omnipotenz auch in geistiger und geistlicher Hinsicht in Anspruch nimmt, welche keine christliche Kirche anerkennen kann. Die Kirche wird hier nur zum Gegenstand weltlicher Politik gemacht und der polizeilichen Willkühr absolut unterworfen. Die treibende Kraft auf Seiten des Staats und der ihm beistehenden Partheien ist bewußt und unbewußt die Feindseligkeit gegen das passive Christenthum überhaupt, und die Regierung kann sich diesen Konsequenzen und Einflüssen gar nicht entziehen. Diesem Standpunkt entsprach es auch vollkommen, die Kirchengesetze im Wesentlichen gleichfalls auf die evangelische Kirche anzuwenden, und während diese ganz unschuldig gebunden und geschlagen wird, kann doch von ihr nicht erwartet und verlangt werden, daß sie dem Staate in seiner unbesonnenen und verfehlten Kirchenpolitik und deren Folgen beistehe. Die evangelische Kirche wird ihren vollen Gegensatz gegen die katholische in Lehre und Verfassung nicht aufgeben, und auch ihren eigenen Kampf mit ihr fortsetzen; sie kann aber nicht die Mittel und Wege des Staats dazu sich aneignen. Wir haben auch in unserem eigenen Innern selbst genug Konflikte und Nöthe; davon hatten wir gestern einen unmittelbaren Eindruck bei dem Konsistorialdiner, welches gestern in meinem Hause, wie in jedem Frühjahr üblich, statt fand und zu dem ich auch den neuen Präsidenten des Evangelischen Ober- Kirchen- Rats Dr. Herrmann eingeladen hatte. Derselbe ist ein liebenswürdiger, gebildeter und redlicher Mann, aber liberaler Doktrinär und daher der schweren Aufgabe nicht gewachsen. Seiner Verstimmung über Mißtrauen und Partheiwesen gab er in seinem Toast einen recht unpassenden Ausdruck, der mich nicht verletzte und mich wohl auch nicht persönlich treffen sollte, aber doch seine gedrückte Lage bedenkenswerth kund gab.
Es wird mir sehr wohlthun und auch Bedürfniß sein, mich diesem Hader auf einige Wochen im heißen Sommer zu entziehen, und denke wieder in Johannisbad, dessen Bad mir anscheinend gut gethan hat, Erholung und Kräftigung zu suchen. Wenn nicht unsre neue Kirchenverfassung oder andere Gewitter dazwischen fahren, möchte ich im August Urlaub nehmen und mit Clara und Clärchen ins Gebirge wandern.
P. S. Deiner lieben Susanna, Anna und allen anderen Kindern meine herzlichen Grüße.
Schwager Adalbert, nachdem er im Reichstag seine Lippesche Regierung mit etwas zu grandiosem Eifer vertheidigt3 und die Fahrt nach Bremen mitgemacht hat4, ist jetzt mit Ella nach Ems zur Kur gegangen.