Berlin den 1sten Juli 1873
Lieber Karl!
So groß unsere Freude war, daß Dir ein Enkelkind mit Gottes gnädiger Hülfe anscheinend glücklich geboren worden, so sehr erfüllt es uns mit schmerzlicher Theilnahme, daß diese Freude und alle daran geknüpfte Hoffnung so bald wieder zerstört, und das liebliche Kindesleben nun schon wieder verloschen ist. Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen; der Name des Herrn sei gelobt. Darum, wir leben oder sterben: so sind wir des Herrn! – Aber es werden dabei doch menschlich heiße Thränen geweint und diese werden in Deinem und Deiner Kinder Hause reichlich fließen. Ich habe es ja auch in meinem Leben erfahren, wie schmerzlich es uns angreift, wenn so schöne Hoffnungen von des Todes Hand vernichtet werden, aber ebenso wie das Bild des Todes in dem Kinde von dem Engel des Friedens verklärt wird durch den zuversichtlichen Glauben, daß wir unser Kind in die Hände des himmlischen Vaters zurückgeben, von dem wir es als ein Pfand Seiner Gnade und Seiner züchtigenden Liebe empfangen haben. Ich bitte Dich, Deinen lieben Kindern, | welche in ihrem jungen Ehestand diese ernste und schwere Erfahrung durchleben müssen, auch mein herzlichstes Mitgefühl auszudrücken. Gott, der Herr, möge die junge Mutter gnädig bewahren, leiblich und geistig stärken und mit dem vollen Troste Seiner ewigen Verheißungen erfüllen!
Ich war in diesen Tagen durch mancherlei Vorgänge sehr beschäftigt, besonders durch den Abgang meines tüchtige weltlichen Raths im Konsistorium, den Konsistorialrath Schmidt, welcher nach Cassel als erster Rath in das neue hessische Provinzial-Konsistorium versetzt worden ist. Es ist dies unstreitig ein sehr glücklicher Griff des Ministers, aber für uns, und besonders für mich ein unersetzlicher Verlust, weil er bei trefflicher Gesinnung und vielseitiger Bildung ein ungewöhnlich leistungsfähiger Beamter ist und in einem Zeitraum von 10 Jahren sich gründlichst in die Kirchenverwaltung unserer Provinz hineingearbeitet hatte und Alles mit lebendigem Eifer erfaßte und förderte. Da er bei einem ernsten religiösen Sinne gemüthlich liberal gerichtet ist, so daß er geneigt ist, die persönliche Freiheit höher zu stellen, wie die Ordnung und das Gesetz, während ich nach Gesinnung und auf dem Grunde einer langen Lebenserfahrung den entgegenge- | setzten Standpunkt einnehme, so sind wir in den wichtigsten und brennendsten Fragen wohl auseinander gegangen und haben scharf mit einander gekämpft. Besonders das Disciplinarverfahren wider Sydow war seinem innersten Wesen zuwider, und ich hatte in allen Stadien mit ihm als einem unermüdlichen und in Einwänden und Bedenken erfindungsreichen Gegner zu ringen. Wenn er mir dadurch auch schwere Arbeit gemacht, so hat durch sein Verhalten, weil es in lauterer Gesinnung beruhte, und nicht durch Menschengefälligkeit bestimmt wurde, doch unsere Freundschaft und Hochachtung nicht gelitten. Im Uebrigen aber hatte ich in allen diesen Jahren in ihm eine sehr zuverlässige und fruchtbare Hülfe. Ich kann nur bedauern, daß der Caßeler Evangelische Ober-Kirchenrath ihn nicht zu sich gezogen hat; dort wäre er an der geeignetsten Stelle gewesen. In Cassel wird er für sein weiches Gemüth noch schwerere Kämpfe, als hier zu bestehen haben und ich bezweifle, ob er dort in diesem unseligen Wirrwarr die feste Sicherheit und die vorbedachte Politik beweisen wird, welche hier nöthig sein wird. Er tritt von vorne herein in den schärfsten Konflikt mit dem gediegensten Kern der melanqolischen Geistlichen, welche freilich tief verbittert und verbissen, und darin | völlig verblendet sind, daß sie die Verfassungsfragen zum Gegenstand des Gewissens und Glaubens machen. Im Uebrigen ist Schmidt die geeignetste Kraft, den Augiasstall vom Schlendrian, und verkommener Verwaltung, wie er in der Hessischen Kirche aus guter alter Zeit überkommen ist, aufzuräumen.
Ein anderer schwerer Verlust scheint uns auch zu drohen; General-Superintendent Dr. Hoffmann ist an einem organischen Herzleiden erkrankt; er macht den Eindruck einer gebrochenen Kraft, wie ich ihn noch gestern gesehen habe. Sein Abgang wäre von tiefgreifendem Einfluß. – Im Evangelischen
Ober-Kirchenrath wird in diesen Tagen die Entscheidung über Sydow gefallen sein; noch ist sie unbekannt, sie wird aber einen Wendepunkt in der Geschichte unserer Kirche bezeichnen.
Von meinen Posener Kindern haben wir gute Nachrichten aus Krumhübel bei Hirschberg im Schlesischen Riesengebirge; sie leben dort fröhlich in schöner Natur und sandten uns sogar einen Gruß von der Koppe, welche jedoch von Marie mittels Trage bestiegen war. Clara will mit Clärchen am nächsten Sontag nach Lautensee zu meiner armen Schwägerin Pauline, welche in ihrem Schmerze des Trostes und Beistandes sehr bedürftig ist, auf 2 – 3 Wochen reisen. Am Anfang August hoffe ich aber zu meiner Erholung auf 5 Wochen nach Johannisbad aufbrechen zu können.
Von Clara die herzlichen Grüße. Gott möge Euch Allen in diesen Tagen der Trauer gnädig beistehen!
In treuer Liebe Dein Bruder Immanuel
Hegel, Immanuel (Manuel, Emanuel)Immanuel HegelJurist/Konsistorialpräsident der Provinz Brandenburg11657072518141891 Hegel, Immanuel (Manuel, Emanuel) (1814–1891), Bruder Karl Hegels, studierte von 1832 bis 1834 und von 1835 bis 1836 Jura an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, von 1834 bis 1835 an der Ludwigs-Maximilians-Universität in München, trat 1836 in den preußischen Staatsdienst ein und war als Verwaltungsjurist in verschiedenen Verwendungen des Königreichs Preußen, vor allem im Staatsministerium, tätig, wurde 1865 Präsident des Konsistoriums der Provinz Brandenburg, heiratete 1845 Friederike Flottwell (1822–1861) und 1865 Clara Flottwell (1825–1912), beide Töchter des oftmaligen preußischen Oberpräsidenten und Staatsmanns Eduard Heinrich Flottwell (1786–1865), war u. a. Vater des preußischen Verwaltungsbeamten und Politikers Wilhelm (Willi) Hegel (1849–1925), war 1856 Taufpate seines Neffen Georg Hegel (1856–1933).
Hegel, KarlKarl Hegel
HiKo
11657075X
Berlin52.5170365,13.3888599Hauptstadt des Königreichs Preußen und ab 1871 auch des Deutschen Reiches.
Privatbesitz
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Privatbesitz
1000
Neuhaus
, Helmut (Hg.): Karl Hegels Gedenkbuch. Lebenschronik eines Gelehrten des 19. Jahrhunderts, Köln, Weimar, Wien 2013.
Neuhaus
, Karl Hegels Gedenkbuch
2013
Lommel, Julia-18731873Lommel, Julia (*† 1873), erstes Kind Eugen Lommels (1837–1899) und Luise Lommels (1853–1924), ältestes Enkelkind Karl Hegels.
Lommel, Luise, geb. Hegel
Luise Lommel, geb. Hegel-18531924 Lommel, Luise, geb. Hegel (1853–1924), Ehefrau des Physik- und Mathematik-Professors Eugen Lommel (1837–1899); siehe auch: Hegel, Luise (1853–1924).
Schmidt, Albrecht Wilhelm Ernst Christian13769778318291911Schmidt, Albrecht Wilhelm Ernst Christian (1829–1911), im sauerländischen Laasphe geborener evangelischer Theologe, der nach seinem Studium an der Universität Bonn im Jahre 1851 seine Berufslaufbahn begann. Er wurde 1863 Konsistorialrat, 1873 Oberkonsistorialrat in Kassel, 1877 Mitglied des Evangelischen Oberkirchenrats in Berlin und war von 1891 bis 1904 als Nachfolger Immanuel Hegels (1814–1891) Präsident des Konsistoriums der Provinz Brandenburg.
Falk, Adalbert11868302018271900Falk, Adalbert (1827–1900), aus Schlesien stammender preußischer Jurist und Politiker, der nach seinem Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Breslau und Berlin im Jahre 1847 an der Hauptstadt-Universität promoviert wurde. Seine berufliche Laufbahn in der preußischen Justiz begleitete er durch sein politisches Engagement auf verschiedenen Ebenen. Von 1872 bis 1879 war er preußischer Kultusminister in der Nachfolge Heinrich Mühlers (1813–1874) und wurde zu einer Hauptperson des „Kulturkampfes“ an der Seite des preußischen Ministerpräsidenten und Reichskanzlers und unterstützte ihn im Kampf gegen den Einfluß der katholischen Kirche. Mit dem Schulaufsichtsgesetz vom 11. März 1872 beendete er zum Beispiel den Einfluß der Kirche auf die Schulen, und durch die sogenannten „Maigesetze“ aus den Jahren 1873 bis 1875 unterwarf er die Ausbildung der Theologen der Aufsicht des Staates. Nach seinem Ausscheiden als Minister blieb er Abgeordneter des Reichstages und wurde 1882 Präsident des Oberlandesgerichts im westfälischen Hamm.
Sydow, Karl Leopold Adolf10404755018001882 Sydow, Karl Leopold Adolf (1800–1882), in Charlottenburg bei Berlin geborener evangelischer Theologe, der mit krankheitsbedingten Unterbrechungen von 1819 bis 1827 an der Universität Berlin studierte und dann vor allem im Berliner und Potsdamer Raum als Pfarrer und Synodale tätig war. Mit seinem am 12. Januar 1872 in Berlin gehaltenen Vortrag „Über die wunderbare Geburt Jesu“, 1873 gedruckt, löste er den Apostolikumsstreit aus, weil er die Jungfrauengeburt bezweifelte.
Hoffmann, Ludwig Friedrich Wilhelm11752647918061873Hoffmann, Ludwig Friedrich Wilhelm (1806–1873), aus dem württembergischen Leonberg stammender evangelischer Theologe, der ab 1824 an der Universität Tübingen studierte und zum Tübinger Stift gehörte. Im Jahre 1843 wurde er Professor an der Universität Basel, dann in Tübingen, bevor er 1852 das Amt des Hof- und Dompredigers in Berlin antrat. Er wurde 1853 Mitglied des Evangelischen Oberkirchenrats der preußischen Landeskirche und war u. a. von 1853 bis 1873 Generalsuperintendent der Kurmark.
Hegel, Clara (Klara), geb. Flottwell
Clara Hegel, geb. Flottwell116570776?18251912Hegel, Clara (Klara), geb. Flottwell (1825–1912), Tochter Eduard Heinrich Flottwells (1786–1865) und Auguste Flottwells, geb. Lüdecke (1794–1862), jüngere Schwester Friederike Hegels, geb. Flottwell (1822–1861), der ersten Ehefrau Immanuel Hegels (1814–1891) und dessen zweite Ehefrau ab 8. September 1865.
Flottwell, Johanna Pauline, geb. Frantzius
-18341897Flottwell, Johanna Pauline, geb. Frantzius (1834–1897), siehe auch: Frantzius, Johanna Pauline.
Kassel51.3154546,9.4924096Ehemalige Haupt- und Residenzstadt der Landgrafen von Hessen an der Fulda und etwa 200 Kilometer nordöstlich von Frankfurt am Main gelegen, circa 50 Kilometer südwestlich von Göttingen entfernt, seit 1866 preußisch.
PosenGroßherzogtum Posen (1815-1849) als Resultat der dritten Teilung Polens und damit bereits seit 1793 zum Kreis Posen innerhalb der preußischen Provinz Südpreußen gehörend (bis 1807), seit 1849 bis 1920 preußische Provinz Posen im Osten Preußens, welche nicht zum Deutschen Bund (1815-1866) gehörte, allerdings seit 1866 dann zum Norddeutschen Bund und seit 1871 zum Deutschen Kaiserreich.
Krummhübel50.7747485,15.7542035Ort am schlesischen Riesengebirge, etwa 20 Kilometer südlich von Hirschberg gelegen.
Hirschberg50.9031028,15.7344306Etwa 130 Kilometer westlich von Breslau im niederschlesischen Riesengebirge gelegene Stadt, die 1815 zur preußischen Provinz Schlesien kam.
RiesengebirgeGebirgszug entlang der schlesisch-böhmischen Grenze, deren höchster Gipfel mit etwa 1600 Meter Höhe die Schneekoppe ist, etwa 350 Kilometer südöstlich von Berlin gelegen.
Schneekoppe50.7359438,15.7397826Mit etwa 1600 Metern die höchste Erhebung des Riesengebirges.
Lautensee53.94772,19.29229Etwa 40 Kilometer südlich von Elbing und etwa 560 Kilometer nordöstlich von Berlin gelegener Gutsbezirk in Westpreußen.
Johannisbad50.6305685,15.7806938Etwa 150 Kilometer südwestlich von Breslau auf circa 520 Meter Höhe im böhmischen Riesengebirge gelegen.
KonsistoriumOberste kollegiale Verwaltungsbehörde einer evangelischen Landeskirche, durch die der Landesherr sein ihm zustehendes Kirchenregiment ausübte.
OberkirchenratGeschäftsführende oberste Institution zur Verwaltung der Landeskirche.