Johannisbad den 3ten September 1873
Lieber Karl!
Wir haben uns über die befriedigenden Nachrichten in Deinem lieben Briefe aus Garmisch sehr gefreut und hoffen, daß Ihr auch die unangenehme Störung durch die Masern der Kinder werdet glücklich überstanden haben. Das Wetter wird Euch vermuthlich dort ebenso wie uns hier im böhmischen Gebirge begünstigt haben; wir hatten ununterbrochen das herrlichste Wetter und bei der klaren reinen Luft war auch die ungewöhnliche Hitze einiger Tage nicht besonders beschwerlich. Jedenfalls waren wir sehr dankbar, diese heiße Zeit nicht in Berlin erleben zu müssen. Luft und Bad hat uns auch körperlich recht gut gethan und ich hoffe mit erfrischter Kraft in mein mühe-, sorgen- und streitvolles Amt zurückkehren zu können. Es war der ruhige, arbeitsfreie Aufenthalt hier für mich eine wirkliche Erholung; da wir durch die beiden letzten Sommer auch mit der Umgebung und allen Verhältnissen genau bekannt waren, bewegten wir uns in einer angenehmen Gewohnheit und zum Theil trafen wir auch wieder mit liebenswürdigen Freunden zusammen, denen wir schon in den vergangenen Jahren hier nahe getreten waren, namentlich dem braunschweigischen Geheim Rath von Liebe aus Berlin, einem sehr gescheuten und
| ungewöhnlich wissenschaftlich gebildeten Manne und dem alten ehrwürdigen Grafen von der Recke-Volmerstein aus Kraschnitz in Schlesien, dem Gründer von Düsselthal. Ganz unerwartet kam auch Freiherr von Richthofen aus Bartzdorf hierher mit seiner Frau, Sophie geb. von Grolmann, einer Jugendfreundin Claras und zwei Kinder, welche auch für Clärchen einen vergnügten Verkehr abgaben. Alle diese Freunde sind in diesen Tagen bereits abgereist, und wir wollen nun auch morgen aufbrechen; da ich aber noch einige Tage meines Urlaubs übrig habe, will ich noch auf Wunsch meiner Gattin einen Ausflug auf die Schneekoppe unternehmen. Wir gedenken daher morgen über Liebau nach Schmiedeberg zu fahren und von dort auf die Koppe zu wandern, und wenn das Wetter es gestattet, auf dem Gebirgskamm zwei Tage uns herumzutreiben. Es ist meine Absicht am Montag den 8ten dieses Monats nach Berlin zurückzukehren, wenn uns nicht schlechtes Wetter früher nach Hause treibt. Mit Richthofens, welche ihren eigenen Wagen mit Pferden mitgebracht hatten, und Liebes haben wir mehrere schöne weitere Parthien nach dem Riesengrund am südlichen Fuße der Koppe, nach Schwarzenthal und anderen Orten unternommen, und sind auch in Thal und auf den Bergen fleißig umhergewandert. Damit es mir aber auch nicht an Beschäftigung in Diensten der Kirche fehle, mußte ich wieder die Leitung des Kirchenbau- | Komites übernehmen und die Feier der Grundsteinlegung am Geburtstage des Kaisers Franz Joseph veranstalten; vom herrlichsten Wetter begünstigt, fiel die Feier ganz stattlich und würdig unter zahlreicher Theilnahme der Kurgäste und der Einwohnerschaft aus. Von katholischer Seite sind uns bei diesem Kirchenbau bisher keine Schwierigkeiten gemacht worden, und auch die Behörden des Landes sind freundlich entgegenkommend.
Von Berlin habe ich durch Willi und
Büchsel gute Nachrichten empfangen. Die lutherische Konferenz, vom Evangelischen
Ober-Kirchenrath sehr mißgünstig angesehen und in ungeschickter Weise vielfach angefochten, hat eine unerwartet zahlreiche Theilnahme erfahren und ist nach allen Berichten würdig und recht befriedigend verlaufen. Es kann dies nicht im Lande, und auch in den oberen Regionen ohne Eindruck bleiben; man wird sich überzeugt haben, daß hier eine Macht in der Kirche gegenübersteht, die das Regiment zu beachten hat, und wenn es das Bekenntnis angreift, einen entschlossenen Widerstand erwarten darf. – Mitten hinein fiel der Tod des General-Superintendenten Dr. Hoffmann; nach den vorausgegangenen Zufällen, durch ein organisches Herzleiden verursacht, war seine Wiederherstellung nicht zu erwarten, und man muß ihm gönnen, daß er nicht länger geistig und körperlich gebrochen sich noch quälen mußte. Es ist aber ein | entscheidendes Eingreifen der göttlichen Vorsehung, daß er jetzt aus unserer Kirche abberufen worden ist; ein Zeichen, das wir in ihr an einem Wendepunkt stehen, denn er hat doch vornehmlich in den letzten 20 Jahren die preußische Kirchenpolitik beherrscht. Ich mußte nur stets beklagen, und war mir oft ein Gegenstand des Aergernisses, daß er seine ungewöhnlichen Gaben und Kräfte im Wesentlichen unfruchtbar zersplitterte, und nicht mehr für die Kirche im praktischen Dienste Nutzen schaffte. Es war ihm dies gleichgültig geworden und daher leistete er auch als General-Superintendent äußerst wenig: die hohe Politik, besonders in der persönlichen Seite beherrsche sein ganzes Interesse. Ich war ihm jedoch dankbar, daß er mir in der eigentlichen Kirchenverwaltung wenigstens nicht hinderlich war, und darin wird sich meine Lage voraussichtlich verschlimmern. Er vereinigte viele einflußreiche Kirchenämter und es wird deren Wiederbesetzung die Gemüther lebhaft beschäftigen; ich werde meiner Seits nicht vergebliche Versuche machen, darauf einzuwirken, sondern die Verantwortlichkeit dafür den amtlich Berufenen gern überlassen. Ich bemühe mich überhaupt, die Betrachtung und Sorge über die Zukunft abzulehnen; es ist genug, daß jeder Tag seine eigene Plage habe. Daran wird es auch in den kommenden Tagen nicht fehlen.
Herzliche Grüße der lieben Susanna und Deinen Kindern. Clara will ihre Grüße noch in einer Beilage selbst aussprechen.
Mit treuen Wünschen Dein Bruder Immanuel
Hegel, Immanuel (Manuel, Emanuel)Immanuel HegelJurist/Konsistorialpräsident der Provinz Brandenburg11657072518141891 Hegel, Immanuel (Manuel, Emanuel) (1814–1891), Bruder Karl Hegels, studierte von 1832 bis 1834 und von 1835 bis 1836 Jura an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, von 1834 bis 1835 an der Ludwigs-Maximilians-Universität in München, trat 1836 in den preußischen Staatsdienst ein und war als Verwaltungsjurist in verschiedenen Verwendungen des Königreichs Preußen, vor allem im Staatsministerium, tätig, wurde 1865 Präsident des Konsistoriums der Provinz Brandenburg, heiratete 1845 Friederike Flottwell (1822–1861) und 1865 Clara Flottwell (1825–1912), beide Töchter des oftmaligen preußischen Oberpräsidenten und Staatsmanns Eduard Heinrich Flottwell (1786–1865), war u. a. Vater des preußischen Verwaltungsbeamten und Politikers Wilhelm (Willi) Hegel (1849–1925), war 1856 Taufpate seines Neffen Georg Hegel (1856–1933).
Hegel, KarlKarl Hegel
HiKo
11657075X
Johannisbad50.6305685,15.7806938Etwa 150 Kilometer südwestlich von Breslau auf circa 520 Meter Höhe im böhmischen Riesengebirge gelegen.
Privatbesitz
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Privatbesitz
1000
Neuhaus
, Helmut (Hg.): Karl Hegels Gedenkbuch. Lebenschronik eines Gelehrten des 19. Jahrhunderts, Köln, Weimar, Wien 2013.
Neuhaus
, Karl Hegels Gedenkbuch
2013
Liebe, Friedrich11703792318091885Liebe, Friedrich (1809–1885), in Braunschweig geborener Jurist, Politiker und Diplomat in herzoglich-braunschweigischen Diensten, von 1867 an als Ministerresident am Berliner Hof.
Recke-Volmerstein, Adalbert Friedrich11874363517911878Recke-Volmerstein, Adalbert Friedrich (1791–1878), nahe dem westfälischen Bochum geboren und von der evangelischen Erweckungsbewegung sowie dem Gedanken der Diakonie beeinflußt, widmete er sich früh der Sorge zuwendungsbedürftiger Kinder und gründete 1822 die „Rettungsanstalt Düsselthal für Waisenkinder“ in einem ehemaligen Zisterzienser-Kloster in Düsselthal.
Richthofen, Ulrich Karl Prätorius13916248818141878Richthofen, Ulrich Karl Prätorius (1814–1878), Kreisrichter, Landtagsabgeordneter und Gutsherr auf Barzdorf in Schlesien, Sohn Karl Friedrich Ernst Richthofens (1787–1841) und Charlotte Karoline Richthofens, geb. Grote (1793–1871), Ehemann Sophie Caroline Richthofens, geb. Grolman (1821–1901).
Hegel, Clara (Klara), geb. Flottwell
Clara Hegel, geb. Flottwell116570776?18251912Hegel, Clara (Klara), geb. Flottwell (1825–1912), Tochter Eduard Heinrich Flottwells (1786–1865) und Auguste Flottwells, geb. Lüdecke (1794–1862), jüngere Schwester Friederike Hegels, geb. Flottwell (1822–1861), der ersten Ehefrau Immanuel Hegels (1814–1891) und dessen zweite Ehefrau ab 8. September 1865.
Franz Joseph I., österreichischer KaiserFranz Joseph I., österreichischer Kaiser11853501318301916Franz Joseph I. (1830–1916), Kaiser von Österreich von 1848 bis 1916 aus dem Hause Lothringen-Habsburg.
Hegel, Wilhelm (Willi)Wilhelm Hegel13593263718491925Hegel, Wilhelm (Willi) (1849–1925), in Berlin geborener Sohn Immanuel (1814–1891) und Friederike Hegels (1822–1861), Ehemann Armgard Hegels, geb. Wulffen (1862–1928), und Neffe Karl Hegels. Er war hoher preußischer Verwaltungsbeamter, u. a. von 1886 bis 1890 Landrat des Kreises Jerichow I, von 1895 bis 1905 Regierungspräsident von Gumbinnen, von 1905 bis 1908 in Allenstein, von 1908 bis 1917 Oberpräsident der Provinz Sachsen. Es war von 1887 bis 1890 Mitglied des Deutschen Reichstages und wurde im Jahre 1909 in den erblichen preußischen Adelsstand erhoben.
Büchsel, Carl Albert Ludwig11866451418031889 Büchsel, Carl Albert Ludwig (1803–1889), geboren in der Uckermark, wurde 1846 erster Pfarrer der neuerrichteten evangelisch-lutherischen St.-Matthäus-Kirche (St. Matthäi-Kirche) in Berlin, nachdem er zuvor schon Superintendent in Brüssow gewesen war. In Berlin wurde er Generalsuperintendent.
Hoffmann, Ludwig Friedrich Wilhelm11752647918061873Hoffmann, Ludwig Friedrich Wilhelm (1806–1873), aus dem württembergischen Leonberg stammender evangelischer Theologe, der ab 1824 an der Universität Tübingen studierte und zum Tübinger Stift gehörte. Im Jahre 1843 wurde er Professor an der Universität Basel, dann in Tübingen, bevor er 1852 das Amt des Hof- und Dompredigers in Berlin antrat. Er wurde 1853 Mitglied des Evangelischen Oberkirchenrats der preußischen Landeskirche und war u. a. von 1853 bis 1873 Generalsuperintendent der Kurmark.
Hegel, Susanna Maria Karoline Henriette, geb. Tucher
Susanna Maria Hegel, geb. Tucher116146891918261878Hegel, Susanna Maria Karoline Henriette, geb. Tucher (1826–1878), häufig „Susette“ genannt, Tochter Johann Sigmund Karl Tuchers (1794–1871) und Maria Magdalena Tuchers, geb. Grundherr (1802–1876), Ehefrau Karl Hegels (1813–1901); siehe auch: Tucher, Susanna Maria.
Garmisch47.4938417,11.0829Etwa 100 Kilometer südlich von München gelegener Ferienort des Werdenfelser Landes in den deutschen Alpen, der 1935 mit dem Nachbarort Partenkirchen zu einer Marktgemeinde vereinigt wurde.
RiesengebirgeGebirgszug entlang der schlesisch-böhmischen Grenze, deren höchster Gipfel mit etwa 1600 Meter Höhe die Schneekoppe ist, etwa 350 Kilometer südöstlich von Berlin gelegen.
Kraschnitz51.4760675,17.3595057Etwa 50 Kilometer nordöstlich von Breslau gelegenes Dorf in Schlesien, das sich zusammen mit seinem mehrfach umgebauten Schloß seit 1845 im Eigentum Adalbert Friedrich Recke-Volmarsteins (1791-1878) befand, dem Gründer von „Düsselthal“.
SchlesienSeit Beginn des 19. Jahrhunderts Provinz des Königreichs Preußen mit Breslau als Provinzhauptstadt.
Düsselthal51.2378412,6.812116Etwa drei Kilometer nordöstlich von Düsseldorf am Rhein gelegene, 1701 gegründete Klosteranlage der Zisterzienser.
Barzdorf50.5268853,16.3651408Etwa 120 Kilometer südwestlich von Breslau und etwa 70 Kilometer südlich von Striegau nahe Riesen- und Eulengebirge gelegen.
Schneekoppe50.7359438,15.7397826Mit etwa 1600 Metern die höchste Erhebung des Riesengebirges.
Liebau49.8767927,17.0826615Stadtgemeinde in Schlesien, etwa 30 Kilometer nordöstlich vom böhmischen Trautenau entfernt auf der Ostseite des Riesengebirges gelegen.
SchmiedebergEtwa 20 Kilometer nordwestlich von Liebau am Riesengebirge gelegen.
Riesengrund50.7213716,15.726776Tal unterhalb der Schneekoppe im böhmischen Riesengebirge.
Schwarzenthal50.635115,15.7096227Westlich von Johannisbad im Riesengebirge gelegen.
MasernVor allem bei Kindern vorkommende hoch ansteckende Infektionskrankheit mit roten Hautflecken, Fieber und stark geschwächtem körperlichen Allgemeinzustand.
DüsselthalRettungsanstalt Düsselthal für Waisenkinder, im Jahre 1822 von Adalbert Friedrich Recke-Volmerstein (1791-1878) gegründet.
OberkirchenratGeschäftsführende oberste Institution zur Verwaltung der Landeskirche.