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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 29. September 1873

Lieber Karl!

Für Deine brüderlichen Wünsche1 zu meinem Geburtstage2 danke ich Dir herzlich; da ich nun auch in mein sechzigstes Lebensjahr getreten bin, so weist jeder Jahresschluß immer kräftiger auf den letzten Abschluß und die Heimfahrt hin. Im Rückblick auf die Vergangenheit danke ich Gott, dem Herrn von ganzem Herzen für Seine gnädige Führung und alle Gaben, die ich auch im verflossenen Jahre von Seiner Hand empfangen habe. Die Zukunft aber, so sehr sie auch Sorgen erwecken kann, lege ich mit kindlichem Vertrauen in die Hand Seines barmherzigen Regiments, welche, wo wir auch keinen Ausweg sehen, doch Alles zu unserem Heile herrlich hinausführt. Bis hierher hat Er über Bitten und Verstehen gnädig durchgeholfen. Das letzte Jahr hat viel Arbeit und Kämpfe gebracht; ich hatte aber auch die Kraft, sie nach dem Maaße meines Vermögens zu bestehen, und zum Schlusse konnte ich wieder eine erquickliche Zeit der Erholung in dem schönen Johannisbad genießen. Jetzt treten mir nun hier neue Aufgaben entgegen; zunächst erfahre ich in meinem Konsistorium erhebliche Veränderungen; nach dem Tode Hoffmanns berührt mich am meisten die Wiederbesetzung seiner General-Superintendentur; wie dieselbe ausfallen wird, weiß ich nicht, da ich mich grundsätzlich, weil es doch erfolglos sein würde, vorher darum nicht kümmere; doch halte ich es für wahrscheinlich, daß dieses, wie überhaupt, das gesamte Erbe Hoffmanns von dem viel gewandteren, sehr leistungsfähigen und ehrgeizigen Brückner angetreten werden wird; derselbe ist viel praktischer, steht aber weit zurück in dem Feld theologischer und allgemein wissenschaftlicher Bildung, in der Festigkeit und Begründung des Glaubens und in dem Reichthum kirchlicher Erfahrung. Hoffmann machte es mir persönlich bequem und nur ausnahmsweise Schwierigkeiten; Brückner wird tendenziöser wirken und eine größere Vorsicht nöthig machen. Die neue Kirchen-Gemeinde- und Synodalordnung ist weniger liberal ausgefallen, als kirchlicher Seits besorgt wurde und wir werden damit leidlich bestehen können, wenn wir auch bedauern, daß man nicht einfach auf den vorhandenen Grundlagen fortgebaut hat. Eine gänzliche Umkleidung und ein ganz neuer Verfassungsbau ist den Menschen sehr unbequem und schädigt das innere Leben und die gedeihliche Entwicklung der Zustände. Man ist des Wählens in stets neuen ungewohnten Formen herzlich müde; die Menschen werden sich daher ziemlich indolent erweisen, die Partheien aber mit Eifer in den Kampf eintreten. Wir haben daher besonders als Behörde eine große Bewegung, viel Arbeit und Konfusion zu erwarten. Die neue Verfassung ist nach der Schablone gearbeitet, und bringt doch zu viel Details, welche zu den vorhandenen Zuständen nicht überall passen werden. Wir werden uns ohne große Aengstlichkeit damit zurecht zu finden suchen. Für mich wird die Aufgabe durch mannigfachen Wechsel in meinem Kollegium erschwert; mit dem kleinen Konsistorial Rath Schmidt, der nach Cassel versetzt ist, habe ich eine große Hülfe verloren. An seine Stelle wird ein Kreisrichter von Weschorm3 aus Dortmund eintreten, der nun mit den Sachen noch ganz unbekannt ist. Zugleich hat jetzt Konsistorial Rath Hahn, der ein sehr tüchtiges Mitglied war, seiner Verabschiedung nachgesucht, und ich habe an seiner Statt auch einen neuen geistlichen Rath, vermuthlich liberaler gefärbt, zu erwarten.

In unserem Hause erfreuen wir uns im Augenblick des Besuches lieber Gäste. Am vergangenen Donnerstag4 kam meine Nichte, Marie Trinkler aus Magdeburg mit ihrem jüngeren Bruder, meinem Mündel. Sie ist noch immer sehr leidend an ihren Augen, deren Schmerzen es nöthig machen, daß sie einen Tag um den Anderen mit Morphium eingespritzt wird; es ist nur die Hoffnung einer langsamen Kräftigung ihres Nervensystems. Sie lebt äußerlich sorgenfrei und widmet sich ganz der Leitung und Pflege ihres jüngeren Bruders Otto, jetzt Ober-Tertianer, ein hochgewachsener blonder guter Junge mit frischen vollen Backen. – Gestern kam zu diesen Gästen meine Schwägerin Pauline aus Lautensee, welche zur letzten Vollendung eines lebensgroßen Bildnisses Herrmanns, das von Fräulein Oeneke nach Photographien ausgeführt ist, ihren Rath und Beistand geben will. Auf Claras Anregung ist das Bild5 von dem alten Frantzius bestellt worden. Wir waren hier von dem Bilde in seiner ganzen Haltung und Ausdruck, nachdem wir ihm nach unserer Erinnerung zu einigen Verbesserungen verholfen hatten, recht befriedigt; doch sehen wir mit einiger Spannung dem Eindrucke entgegen, den es auf Pauline machen würde, und es ist uns eine große Freude, daß sie auch sich, als wir heute dort waren, abgesehen von geringen Anständen, denen sofort nachgeholfen werden konnte, damit ganz zufrieden erklärte. Sie ist eine wackere gewissenhafte Frau, die ihren Beruf in Allem mit großer Treue erfüllt. – Morgen will nun auch Ella mit ihrem Töchterchen hier durchreisen, um endlich nach Detmold zu ihrem einsamen und vielgeplagten Gatten Adalbert zurückzukehren. Der letztere kann mit seinen Demokraten nicht zurechtkommen und ich besorge, daß es ihm dabei an Geduld, Besonnenheit und konsequenter Zähigkeit fehlen möchte. Die Westphalen sind nicht leicht zu bewältigen.

Von den Kindern in Posen haben wir stets gute Nachrichten; Clara denkt in der zweiten Hälfte des Oktobers sich zur Assistenz dorthin zu übersiedeln. Mit dem Güntherschen Hause unterhalten sie einen lebhaften freundschaftlichen Verkehr. Der kirchliche Kampf ist dort in vollem Brand; im Namen des formalen Rechts steigern sich die Mittel der polizeilichen Gewalt und der Exekution. Da die Kirche in ihrem Selbstbewußtsein und ihrer nationalen Kraft auf diesem Wege nicht gebrochen werden kann, so muß der Kampf zur völligen Zerrüttung aller Zustände und durch die Aufregung der Leidenschaften anscheinend zur Revolution führen. – Von den Festen für Victor Emanuel, welche die liberalen Zeitungen über Gebühr ausgeschmückt haben, habe ich in der Nähe wenig gesehen.

Gestern traf ich bei Lepsius den Professor Adler, der mit großer Wärme seinen Dank für die Hülfe aussprach, welche ihm Deine Chroniken von Straßburg6 für seine Forschungen über den Münster gewährt haben. Er wird Dir auch seine Schrift, sobald sie erschienen, übersenden.

Zum Ankauf der gewünschten Photographien habe ich noch keine Zeit gefunden; ich werde sie aber bald besorgen und Dir zusenden. – Clara grüßt Dich und die Deinigen herzlich; sie wird sobald sie im Hause mehr Ruhe hat, der lieben Susanna schreiben.

Mit treuen Wünschen Dein Immanuel