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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 26. Dezember 1873

Lieber Karl!

Die Festtage des Hl. Christes bringen mir etwas Ruhe, so daß ich einmal zum freien Briefschreiben kommen kann. In der Welt giebt es ja viel Bewegung und auch in der Familie fehlt es nicht an Vorgängen, die man gern mittheilen möchte. Ueber den Verlauf des Wochenbettes in Posen hat Euch Clara von dort Nachricht gegeben. Am 6ten Dezember, Sonnabend Abend war die Taufe1; ich hatte versprochen, mich als Pathe dazu einzufinden, und benutzte die Gelegenheit einen längst beabsichtigten amtlichen Besuch in Frankfurt a/O auf der Durchreise abzustatten. Ich verwendete dazu den Freitag2, begrüßte die Herren der dortigen Regierung und die Pastoren, besah die Kirchen und hatte ein festliches Diner beim Konsistorial Rath Reichhelm zu bestehen. Am Sonnabend Morgen vereinigte ich mich mit Mutter Bitter, die von Berlin eintraf, und wir fuhren zusammen nach Posen. Es war ein frohes und dankerfülltes Wiedersehen. Marie, die glückliche Mutter, wieder im Ganzen erholt und erstarkt, Rudolph im Hochgefühl seiner Vaterwürde, und mein Enkelkind, ein wohlgestaltetes liebliches Wesen, in kummerloser Unschuld. Mama Bitter logirte bei Günthers im Oberpräsidium, ich im Wirthshause. Am Abend um 7 Uhr war die Feier der Heiligen Taufe, es standen außer mir als Pathen Mutter Bitter, Frau Günther, Konsistorialrath von der Groeben und abwesend Frau Anna Valentiner, geb. Lepsius in Lejden. Consistorial Rath Reichardt vollzog würdig die Handlung und der kleine Conrad, so wurde er genannt neben Rudolph Immanuel, betrug sich dabei sehr artig. Den Sonntag verweilte ich noch in Posen; die Stadt ist stattlich und belebt; neben vielen Soldaten geben die politischen Gestalten der unteren Klassen einen fremdartigen Character. Der Dom ist ein hervorragendes Kirchengebäude im Rococo; daneben steht das moderne Wohngebäude des Erzbischofs.3 Am interessantesten war mir das Regierungsgebäude mit der stattlichen Wohnung des Oberpräsidenten, eine lange Reihe schöner flachgewölbter Wohnräume oder Säle. Hier werden viele Flottwellsche Erinnerungen wach gerufen4; jetzt lebt darin Freund William und hat eine schwere und undankbare Arbeit zu vollziehen.5 Sein Familien-leben mit einer lebendigen Frau und zahlreichen gutgearteten Kindern ist behaglich und weichlich in Güntherscher Weise. Er ist ein nüchterner klarer Kopf und ein tüchtiger Geschäftsmann, im Umgang nergelich6 und rechthaberisch, damit aber im jetzigen Kampf ein fester und umsichtiger Exekutor der Regierung. Rudolph wird jetzt ganz von ihm in den kirchlichen Sachen des Oberpräsidiums beschäftigt7; es ist für ihn eine gute Schule, wenn er sich über seinen Schulminister8 auch dabei sehr ärgert. – Am Montag9 Vormittag führte ich dann meine Clara wieder heim, welche volle 6 Wochen dort verweilt hatte; Mutter Bitter blieb noch bis Ende der Woche bei den Kindern.

So schwer es mir wurde, mich in diesen Tagen von dem Geschäftsdrang loszumachen, so war es mir doch sehr wohlthuend dazwischen andere und mehr erfrischende Eindrücke zu empfangen. Hier leben wir in der Kirche als ob wir in ihr noch ein Jahr 1848 wieder durchmachen müßten. Die Schleusen sind aufgezogen, so daß der Strom aller trüben Gewässer sich mit ihrem Schlamm in die Kirche hineinwälzen. Die Liberalen rühren mit der ihnen eigenen Betriebsamkeit, mit Haß und Verläumdung die unteren Klassen gegen Kirche und Christenthum auf, und führen ihre Haufen zu den Wahlen, um nun auch die Kirche zu beherrschen; es kommt ihnen nicht auf den Dienst in der Kirche an; so wie hier in den Vorständen die Arbeit im Kleinen, in der eigentlichen Verwaltung beginnt, werden sie verschwinden und die Pastoren damit sitzen lassen; es liegt ihnen wesentlich daran auf die Wahlen zu den Kreissynoden und zur Provinzialsynode Einfluß zu gewinnen. Auf dieser letzteren Synode wird dann auch der entscheidende Kampf durchgefochten werden müssen. In St. Matthäus ist der Ausfall der Wahlen auch noch sehr zweifelhaft; Demokraten und Getaufte zudem haben in allen Häusern Kochhannsche Aufrufe verbreitet und die Anmeldungen der Wähler zusammengetrommelt; Männer, wie Virchow und Kirchmann haben nicht verschmäht sich zu gesellen, so daß 580 Wähler sich gemeldet haben; beide Partheien halten in Wirthshäusern ihre Versammlungen, und auf diese Weise wird christliches Leben geweckt!

Ich schaue allerdings mit trüben Gedanken in das neue Jahr hinein und bin der Meinung, daß wir uns auf einer abschüssigen Ebene in eine verderbliche Krisis hineinstürzen; möchte sie für unser Volk und Vaterland eine gründliche Säuberung und Reinigung zur Folge haben. Ob wir Alten dies freilich noch erleben werden, ist mir sehr zweifelhaft. Wir mögen nur feststehen auf unserem sicheren Felsen, ohne Menschenfurcht in fröhlichem Gottvertrauen und in der Zuversicht einer seligen Hoffnung des ewigen Friedens. – Der unüberlegte und unvorbereitete Kampf mit der katholischen Kirche trägt seine Früchte; ohne Möglichkeit der Verständigung und Versöhnung wird der Kampf, wie im 17ten Jahrhundert bis zur völligen Zerrüttung des Landes und der Erschöpfung der Kräfte fortdauern. Es wäre eine thörichte Hoffnung, die katholische Kirche vernichten oder eine katholische Nationalkirche ohne Papst gründen zu können. Der weitere Verlauf wird nur die Unfähigkeit des Staats und der politischen Gewalt, damit dem Liberalismus, eine Kirche zu vernichten oder eine Kirche gründen zu können, herausstellen. Das christliche und kirchliche Leben des Volkes kann der Staat wohl untergraben und dazu ist ein wichtiger Schritt die Civilehe, die tiefgreifendste Maaßregel, welche wir erlebt haben, die vielleicht aber auch unsere Welt zur Besinnung bringen kann. – Mit unserem alten König steht es auch bedenklich, und man kann es ihm unter allen diesen Wirren wohl gönnen, daß er bald zur Ruhe eingehet.

Mein Gott der Herr, wird, wenn wir nur Seine treue Hand festhalten, uns durch alle diese Stürme gnädig durchhelfen!

Von Clara und meinen Kindern die herzlichsten Grüße und Glückwünsche zum Neuen Jahr! Willi ist im Examen und wird, nachdem er die schriftliche wissenschaftliche Arbeit abgeliefert hat, in einigen Wochen die mündliche Prüfung zu bestehen haben.

Den Weihnachtsabend haben wir gemüthlich mit Schwager Theodor aus Potsdam und Neffe Adalbert verlebt. – Nun leb wohl, lieber Karl, mit meinen herzlichsten Wünschen zum Neuen Jahre für Dich und Dein Haus. In treuer Liebe Dein Immanuel