Unsere Briefe1 haben sich zu Weihnachten gekreuzt. Aus dem Deinigen haben mich die Schilderungen der vielen glücklichen Seiten Eures ausgedehnten Familienlebens, insbesondere der Liebeserweise der guten alten Tante in ihrem rüstigen Alter herzlich erfreut, dagegen aber die mitgetheilten schmerzlichen Erfahrungen unter Deinen Kindern mit warmer Theilnahme erfüllt. Die Krankheit des lieblichen Sophiechens ist wohl besorglich2; vermuthlich hängt sie mit dem Eintritt in das Entwicklungsalter zusammen; in neuerer Zeit sind uns zahlreiche Fälle in unserem Bekanntenkreise vorgekommen, in denen sowohl bei jüngeren, als wie bei älteren Personen solche Krampfzustände durch Anwendung von Bromkali in starken Dosen bei sehr geregelter Lebensweise mit glücklichstem Erfolge überwunden worden sind z. B. der dritte Sohn des verstorbenen General-Superintendenten Hoffmann; er war in den höheren Klassen des Gymnasiums und ist jetzt Kandidat der Theologie. Ebenso meldete sich kürzlich ein älterer Pfarrer, der wegen Krämpfe emeritirt worden und jetzt wieder die Verwaltung eines Pfarramtes übernommen hat. Gott gebe, daß auch Dein Kind durch ebenso vorsichtige als energische Behandlung zu Eurer Freude wieder geheilt werden möchte.
Eine noch ernstere Sorge ist Dein Georg, der Dir schon so viel Mühe und Verdruß bereitet hat. Eine so oberflächliche, träge und widersinnige Natur bietet für die Erziehung die schwierigste Aufgabe, weil zu wenig haftet und eindringt. Doch die Kinder sind immer ein Gegenstand der Geduld; sie sind uns selbst zur Zucht und Demüthigung gegeben und wir dürfen niemals an ihnen verzweifeln. Die Liebe läßt sich nicht erbittern; diese Weisung der Heiligen Schrift in 1. Kor. 133 hat mich oft im Leben zurechtgebracht; sie hatte sich mir durch eine Predigt des Bischofs Draeseke tief eingeprägt. Die Liebe ist langmüthig und freundlich; sie glaubet Alles, sie hoffet Alles und sie duldet Alles. Der Segen und die Verheißung dieser Liebe wird sich auch bei Euch an eurem Kinde erfüllen. Wenn wir überlegen, und das müssen wir bei der Erziehung thun, auf welchem Wege und mit welchen Mitteln wir dem inneren Wesen und Herzen des Kindes beikommen und darauf wirken können, so ist es bei Georg offenbar, daß das Gesetz und die strenge Zucht, die im Kindesalter berechtigt war, sich an ihm in der Hauptsache erschöpft haben; bei einem jungen Menschen von 17 Jahren rich- tet man damit direkt wenig oder gar nichts mehr aus; nur die Ordnung und Arbeit seiner Tage und Beschäftigung können in dieser Richtung wirken. Im Uebrigen kann allein die herzliche, freundliche und vertrauende Liebe auf sein Herz noch Einfluß behalten, und sie muß sich um so tiefer und kräftiger erweisen, je gefährlicher sein Zustand mit zunehmendem Alter wird. Es hat mich die Entschiedenheit erschreckt, mit welcher Du die Absicht, ihn nach Amerika zu schicken, erfaßt hast; ich kann diesen Gedanken auch keineswegs praktisch finden. Du denkst ihn damit los zu werden, das Band mit der Familie zu zerschneiden und seinem Geschick Preis zu wenden. Das möchte aber ein schlimmer Irrthum sein. So leicht und rasch jetzt die Reise dahin gemacht wird, so leicht ist auch die Rückreise. Die verbummelten Söhne – und solche Fälle sind mir bekannt – kommen früher oder später verlumpt, frech, mit lasterhaften Gewohnheiten und mit verbittertem und verstocktem Herzen zurück, und lassen sich nicht von der Thüre abweisen; sie ertrotzen die Ernährung durch öffentliche Schande. Die Ausweisung nach Amerika darf überhaupt gar nicht als ein Plan oder bestimmte Aussicht erfaßt, sondern nur ausgeführt werden, wenn praktisch und durch die Lage und Noth der Umstände dieselbe als eine Flucht aus der Heimath unvermeidlich wird, und der junge Mann selbst sie dringend verlangt und ihre Nothwendigkeit erkennt. Wird er vom Vater mit Zwang dahin geschickt, so läßt er ihm seinen Fluch zurück. So schwere Vergehen, welche Deinen Georg zur Flucht nach Amerika nöthigten, liegen für jetzt nicht vor. Was er gethan hat, zeigt nur kindischen Leichtsinn und gefräßige Begierde. Das schlimmste ist die Lügenhaftigkeit; sie ist die Ursünde der Menschen. Zucht und Strafe wirken in seinem Alter dagegen nichts mehr. Die einzige Kraft, die sie bekämpfen kann, ist das Gewissen vor Gott, den Allwissenden, in diesem wurzelt auch das Gewissen vor den Menschen, welches sich bei ihm abgestumpft hat. Wenn Du daher durch Deine herzliche Liebe sein Herz bewegen und sein Vertrauen gewinnen und in ihm die Gottesfurcht und den Glauben an Gottes Gnade in Christo Jesu, der uns die Vergebung unserer Sünden verbürgt hat, beleben kannst, so wirst Du die Kräfte anwenden, die allein für ihn zur Macht werden und ihn retten können. Gott, der Herr, gebe Dir dazu Kraft und Segen! –
Du wirst wohl auch durch die Zeitungen die Nachricht von dem Tode unseres alten Freundes Hotho erhalten haben4; es hat mich das sehr bewegt und ich mußte um so mehr bedauern, daß ich nicht, wie ich wünschte und wollte, aber unter dem Drange der Geschäfte nicht ausgeführt, nach dem Tode seiner Frau Louise, welche im August vorigen Jahres während meiner Abwesenheit gestorben war5, ihn besucht habe. Er war durch diesen Tod seiner geliebten Louise – welche übrigens in den letzten 7 Jahren das Haus nicht verlassen – gebrochen und nach einem Schlaganfall hat er nur noch wenige Tage gelebt. Er war ganz einsam in seinem Hause. Ich nahm an seiner Beerdigung Theil, bei welcher, wie bei der von Frau Louise, ein würdiger Geistlicher fungirte.
In meinem Hause sind, Gott sei Dank, Alle wohl.
Herzliche Grüße von Clara und den Kindern.
In treuer Liebe Dein Bruder Immanuel