Es ist mein herzlicher Wunsch, von Dir bald wieder nähere Nachrichten zu erhalten, von Dir und Eurem Ergehen nach dem schmerzlichen Verlust1, von welchem Dein Haus betroffen worden ist. Das äußere Leben und die tägliche Arbeit finden sich zwar rasch wieder zurecht in dem gewohnten und gebotenen Gang, es hat aber doch innerlich eine tiefe Veränderung erfahren, welche überall und von allen Gliedern stetig empfunden wird. Es ist dann wohl erwünscht und auch Bedürfniß, daß wir uns der zahlreichen Lebensgüter und Gnadengaben, derer wir uns noch erfreuen dürfen, recht lebendig bewußt werden und die Glieder des Hauses sich in diesem Gefühl um so inniger zusammenschließen. Das Leben ist an allen Enden und Ecken Stückwerk und bedarf nothwendig einer höheren Lösung, in welche auch die Sorgen und Leiden dieser Zeit nicht hineinreichen. Es ist thöricht, von den Zuständen, in denen wir leben, die Vollkommenheit zu verlangen und doch sind wir leider stets geneigt, darin eine ungestörte Befriedigung zu suchen und tragen es schwer, wenn uns dies versagt wird. Mit dieser Thorheit habe ich selbst viel zu kämpfen, besonders in der gegenwärtigen Zeit, welche mir schon an sich sehr wirre und noch viel gefahrvoller für die Zukunft erscheint. Wir müssen es freilich stets vorhalten, daß wir uns in einer Durchgangsperiode befinden, in welcher sich die modernen politischen Ideen in unseren Zuständen durchkämpfen wollen; es ist unvermeidlich hierbei viel Lehrgeld zu bezahlen, um alle damit verbundenen Illusionen und Unwahrheiten zu überwinden, auf daß die substantiellen Grundlagen des sozialen und politischen Lebens in gesunder Kraft und Anerkennung erhalten bleiben. Wenn aber dieser nothwendige Prozeß nun noch durch die gewaltsam herbeigezogenen kirchlichen Kämpfe erschwert wird, so entsteht eine solche Welt voll Reibungen und aufgeregten Leidenschaften, bei denen es dem Einzelnen schwer fällt, sich Gemüthsruhe und Besonnenheit und einen festen Standpunkt zu bewahren, und wenn man im Amt und Beruf mitten darinnen steht, in jedem Moment die Gefahr droht, von dem Sturm auch ergriffen und umgerissen zu werden. In diesen Tagen verzichte ich darauf, Prophet der Zukunft sein zu wollen, und halte mich nur um so fester an das Regiment des allmächtigen Gottes, welcher doch die Geschicke der einzelnen Menschen, wie der Völker nach Seinen uns jetzt noch verborgenen Rathschlüssen lenken wird. Wir müssen Ihm aber treu bleiben und fest zu Seinen Geboten und Seinen Verheißungen stehen.
In dem Kampf mit der katholischen Kirche ist ein Ende nicht abzusehen; auf beiden Seiten zeigt sich wohl das Verlangen nach einem Waffenstillstand durch einen modus vivendi; es ist dies aber durch das unverständige Verlangen des Staats, daß die katholische Kirche die wesentlichsten Prinzipien ihres Bestandes grundsätzlich aufgeben solle, unmöglich gemacht; er hat nicht wegen bestimmter Thatsachen als einzelner Uebergriffe, sondern um ihrer Prinzipien willen den Kampf unternommen und hiernach einen Eid der Bischöfe gesetzlich normirt, den dieselben niemals schwören werden. Man hofft hier auf einen baldigen Tod des Papstes Pio nono; dieser wird aber viel länger leben, als man glaubt, und es widerspricht auch der Wahrscheinlichkeit und Erfahrung, daß der neue Papst die geforderten Zugeständnisse machen werde. Für die katholische Kirche, welche auf eine Lebensdauer rechnet solange die Erde und die Menschheit bestehen wird, ist aber die Aufrechthaltung ihrer Prinzipien eine Bedingung ihrer Existenz nicht allein für Deutschland, sondern für alle Länder der Welt.
Die Ausbildung der neuen Verfassung 2 Herrmann muß wieder die nur dem Neuling auf diesem Gebiete unerwartete Erfahrung machen, daß die Liberalen ohne sichere Zahlung oder Bürgschaft Nichts bewilligen. Sie wollen daher durch das Landesgesetz, dessen Berathung morgen beginnen wird, nur die Verfassung der Gemeinden, nicht aber die der Synoden sanktionieren; bei letzteren wünschen sie erst den ersten Versuch abzuwarten und nur wenn sie sich genügend liberal erweisen, werden sie geneigt sein, dieselben mit den nöthigen Kompetenzen auszustatten.
für unsere evangelische Kirche ist auch ins Stocken gerathen. PräsidentIn meinem Hause ist in den letzten Wochen vielfacher Verkehr gewesen; Marie war nach der Abreise ihres Gatten noch 14 Tage mit ihrem kleinen Konrad hier geblieben und ist nun vorgestern3 nach Posen zurückgekehrt. Sie war recht wohl und frisch, obwohl sie sich hier mit einer schlimmen Zahnoperation plagen mußte. Der kleine Konrad machte uns große Freude, ein kräftiger und sehr behaglicher lebendiger Junge. – Dazwischen besuchte uns auch meine Schwägerin Pauline aus Lautensee, welche ihre älteste Tochter, Auguste, hier in einer Pennsion zur höheren Ausbildung brachte. Zu gleicher Zeit kam auch Schwager Adalbert aus Detmold zum Besuch. – Mein Willi befindet sich noch in Wesel zur Uebung als Reserve-Offizier bei seinem Regiment4; es geht ihm dort anscheinend ganz gut; auf der Rückreise will er das Pfingstfest5 in Detmold zubringen.
Von meiner Frau und Clärchen die herzlichsten Grüße. Mit treuen Wünschen Dein Bruder
P. S. Den gewünschten Abschluß Deiner Rechnung füge ich bei.6