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Karl Hegel an Immanuel Hegel, Erlangen, 3. Mai 1874

Lieber Manuel!

Herzlichen Dank sage ich Dir für Deine lieben trostreichen Briefe.1 Es ist nun schon ein Monat her, daß wir unser liebes Kind zur Erde bestattet haben und der erste heftige Schmerz über den Verlust hat sich gemildert. Doch schwebt uns beständig sein theures Bild in schöner Verklärung vor Augen und frisch ist uns die Erinnerung an sein fröhliches Dasein, an sein lebendig angeregtes Wesen, seine naiven Einfälle, seine liebenswürdige Zutraulichkeit, womit er sich die Herzen aller Menschen gewann. Es ist sehr still im Hause geworden, seitdem unser Liebling fort ist und oft ergreift uns ein sehnsuchtsvolles Verlangen nach dem Dahingeschwundenen. Unbegreiflich erscheint es, daß ein so junges frisches Leben in der ersten Blüthe aus unserer Mitte hinweg genommen worden ist.

In den vergangenen schönen und warmen Frühlingstagen suchten unsere Augen vergebens den munteren Knaben in dem Garten, wo er sonst des Morgens umher gesprungen ist, und nun hat der rauhe plötzliche Frost mit einer Kälte von 5 – 6 Grad, gleichsam wie zur Versinnlichung unseres Schmerzes, auch die zu früh erschienene Frühlingspracht mit dem reichsten Blüthenschmuck vernichtet! Wie kurz und vergänglich ist doch dieses menschliche Leben, so bedeutend und inhaltsreich es uns auch, während wir sind und uns darin bethätigen, vorkommt! Jeder Tag nähert uns dem Ende und man möchte darum gern noch jeden Tag doppelt ausnutzen. Denn es kommt die Nacht, da Niemand wirken kann. Dabei mehren sich bei zunehmendem Alter immerfort die Beziehungen nach innen und außen, so daß man sich immer mehr theilen muß, während man umgekehrt seine Zwecke und Aufgaben möglichst beschränken und auf das noch Erreichbare zusammenziehen möchte.

Ich finde die reichste und anziehendste Beschäftigung in meinen schriftstellerischen Arbeiten, die jetzt wieder vorzugsweise unserer Geburtsstadt Nürnberg gewidmet sind. Nachdem mein treuer Mitarbeiter Professor von Kern mir durch den Tod entrissen worden ist, seh ich mich genöthigt, dessen unvollendete Arbeiten mitten im Druck eines neuen Bandes aufzunehmen und zu vollenden. Ich war zu diesem Zweck in der letzten Zeit, so oft es mir möglich war, drüben in Nürnberg und habe mich darin gleichsam vergraben. Außerdem bin ich vor nun 3 Wochen einer Einladung meines Freundes und Collegen Wegele in Würzburg dorthin gefolgt, um der Einsegnung seines Sohnes Karl, meines Pathen, anzuwohnen. Es war ein schöner warmer Frühlingstag, den ich in Würzburg zubrachte und der mir wohl gethan hat.

Meine liebe Susanna hat selbst vor kurzem an Clara geschrieben2 und wird Euch mitgetheilt haben, wie es mit ihr selbst und unseren Kindern steht. Sie war seitdem vorübergehend krank und lag mit Fieber im Bett, nachdem sie vorher bei der lieben Mutter in Nürnberg gewesen. Diese selbst war eine Woche lang ernstlicher unwohl, hatte Fieber und Stechen in der Brust, doch ist auch das glücklich vorübergegangen und ich habe sie gestern wieder mitten im Stöbern angetroffen. Georg hat sich in der letzten Zeit zusammengenommen und keinen Anlaß zur Klage mehr gegeben; irgend eine sichere Hoffnung wage ich darum doch nicht zu fassen. An unserer Universität sind viele Personalerörterungen eingetreten: an Stelle von drei abgegangenen Professoren Ehlers, Meyer und Ziemssen, mit deren Familien wir auch oft verkehrten, sind drei neue Selenka, Lüder und Leube, von welchen der letztere erst erwartet wird, gekommen. Man ist an diesen Wechsel schon gewöhnt und findet sich darein, so gut es eben geht.

Nach der zugesandten Abrechnung, für welche ich bestens danke, bin ich in Deiner Schuld; ich werde Gelegenheit finden sie abzutragen. Ihr werdet große Freude erfahren haben durch den Besuch Eurer lieben Tochter und Eures Enkelkindes, woran wir herzlichen Antheil nehmen. Mögest Du im übrigen in die Gegenwart nicht allzu trübe blicken und Dir den freien Sinn offen erhalten für die großen und nothwendigen Ziele, welche sie hoffentlich nicht vergebens erstrebt.

Mit herzlichen Grüßen an Clara und Clärchen und den im Waffendienst abwesenden Willi

von Deinem Bruder Karl.