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Karl Hegel an Immanuel Hegel, Erlangen, 26. Juni 1874

Lieber Manuel!

Seit meinem Geburtstag1 habe ich Dir noch nicht geschrieben und noch nicht gedankt für Deine brüderlichen Glückwünsche.2 Ich erschrecke über die Zahl meiner Jahre und hoffe auf nicht mehr viele, möchte aber doch noch manches Begonnene vollenden und meine Kinder weiter gefördert sehen, um mit mehr Beruhigung auf ihre künftige Lebenslaufbahn hinauszublicken. Doch steht das, wie Alles, in Gottes Hand.

In der Pfingstwoche, die meinem letzten Geburtstag vorausging, war ich in Göttingen und Bremen und verweilte drei Tage am letzteren Ort, wo die Versammlung des Hanseatischen Geschichtsvereins stattfand. In Göttingen traf ich außer Waitz, mit welchem nebst Pauli und Frensdorf ich nach Bremen reiste, meinen alten Collegen und Freunde Thöl und Jhering wieder und verbrachte mit diesen einen sehr angenehmen Abend. Jhering war eben aufs Neue durch den Heidelberger Ruf beunruhigt, dem er gern gefolgt wäre, wenn er sich nicht vor kurzem erst bei Ablehnung der Berufung nach Leipzig fest an Göttingen gebunden hätte. Und auch in Göttingen fehlt es ihm nicht an einem lohnenden Wirkungskreis, an Haus und Garten und sonstigem Lebensgenuß, worauf er Werth legt. Die Stadt Bremen kennen zu lernen war längst mein Wunsch. Mit ihrer Geschichte, Chroniken und Urkunden bin ich vertraut, und beabsichtige die Herausgabe ihrer Chroniken in meiner Sammlung.3 Diese vorzubereiten war der Hauptzweck meiner Reise. Die Stadt in ihrer großen Wohlhabenheit und bürgerlichen Regsamkeit hat den angenehmsten Eindruck bei mir zurückgelassen; auch die Umgegend habe ich auf zwei Ausfahrten mit Dampfschiff und Eisenbahn in Gesellschaft der Geschichtsgenossen und unter der gastlichen Führung der Bremer Herren besucht, dabei die fürstliche Villa eines Bremer Kaufherrn und Fabricanten, Namens Knop, und die großen Hafenanstalten von Bremerhafen besichtigt. In der Ferne sah ich, wie auf dem Wasser schwimmend, die neu angelegten Festungswerke, welche die Mündungen der Weser beschützen. Wie sicher fühlt sich nun die Stadt unter dem Schutz des Reichs geborgen, und nirgends ist die Anhänglichkeit an Kaiser und Reich größer als dort. Diese Gesinnung sprach sich mit lebendiger Wärme aus bei dem Festessen, welchem der geistvolle Bürgermeister Gildemeister präsidirte. Noch viele andere bedeutende und treffliche deutsche Männer lernte ich dort kennen. Mit großer Befriedigung bin ich auf demselben Weg, auf dem ich gekommen, zurückgekehrt; doch verweilte ich jetzt 4 Stunden in Hannover, um auch diese welfische Residenz zu betrachten: das Alte wie das Neue, das sie bietet, hat nicht viel zu bedeuten; mir war es hauptsächlich darum zu thun, mir den hannoverischen Hof in ihr zu vergegenwärtigen, und zu diesem Zweck besuchte ich auch den viel genannten Park nebst Schloß zu Herrenhausen, in welchem einst der blinde König umhergewandelt ist4; er hat die Langeweile dieser steifen Anlage im französischen Stil nicht empfinden können; und auch das Schloß ist als ein königliches, ebenso wie das in der Stadt, nur ein bescheidenes zu nennen.

Vorgestern, am 24. Juni oder Johannistag, feierte die gute Stadt Nürnberg ihren besten Volksdichter, Hans Sachs, bei Enthüllung seines Denkmals in Erz, das mitten auf dem Spitalplatz in der Nähe seines ehemaligen Wohnhauses steht. Ich war dabei, nicht zwar bei dem Festzug, den besonders unsere Studenten mit ihren bunten Farben schmückten, und nicht bei der Enthüllung und bei der Einweihungsrede auf dem Platz, von der die Versammlung so gut wie nichts verstand, auch nicht bei dem Fastnachtsspiel, dem Narrenschneiden, welches auf dem Balcon eines an der Südseite des Markts gelegenen Hauses gegeben wurde, und nicht bei dem Schäfflertanz, denn ich fuhr erst um Mittag hinüber, wo alles dies schon vorbei war, sah in der Frauenthorstraße und auf dem Markt viele Häuser mit Fahnen und Kränzen geschmückt, und am meisten auf dem Spitalplatz, wo jetzt die Judensynagoge stolz neben der alten Heilig Geist Kirche im orientalischen Schmucke prunkt; in der strahlenden Mittagssonne glänzte wie von Gold der ehrwürdige Meister Hans Sachs, angethan mit seinem Schurzfell5 und sitzend auf dem dreibeinigen Schusterstuhl; gar launig blickt er sinnend hinaus, gewiß eben einen schalkhaften Gedanken erfassend, mit der Feder in der rechten Hand und der Schrift in der linken; ein ganz vortreffliches, höchst lebendiges Genrebild. Der Meister, der es gefertigt, ist oder vielmehr war – denn er ist im vergangenen Jahr gestorben – ein Nürnberger, Namens Kraußer, und er hat sonst nichts Nennenswerthes gemacht; seinen Ruhm sollte er nicht mehr erleben und seine Familie hat er im Elend zurückgelassen! Doch nun noch zu sagen, wobei ich war – ich war bei dem Hauptact, nämlich bei dem Festessen im Vogel Strauß und habe dort einen Toast ausgebracht6 auf das alte Nürnberg mit dem neuen, gewürzt mit einigen alten Geschichten und mit einigen wohlgemeinten Winken für den Stadtmagistrat, die sehr gut, wie es schien, aufgenommen wurden. Auch das auf dem Markt versäumte Fastnachtsspiel konnte ich dort genießen, denn es wurde noch einmal auf dem Hof des Straußen speciell für die Tischgesellschaft aufgeführt.

Übermorgen am Sonntag steht mir weiter eine Zusammenkunft zwischen den Erlanger und Würzburger Professoren in Bamberg bevor, von der ich künftig berichten werde.

Anna ist seit Montag zum Besuch bei Rosa Georg in Schweinfurt, von der sie schon lange begehrt wurde; sie will am nächsten Montag zurückkommen, und am Ende dieser nächsten Woche werden meine zwei anderen Haustöchter, Marie und Sophie, mit ihrer Großmama auf Reisen gehen, über Ingolstadt, wo sie Caroline besuchen, nach Kohlgrub im Gebirg westlich von Murnau, wo der Schwager Löffelholz ein Häuschen besitzt, das sie bewohnen werden. Unser Töchterlein Sophie soll sich nach ärztlicher Verordnung der heißen und trockenen Luft des Juli und August in unserem sandigen Erlangen durch einen längeren Gebirgsaufenthalt entziehen, um Gesundheit und Nerven zu stärken.

Bis wann gedenkt Ihr nach Johannisbad abzureisen? Unsere ferneren Pläne sind hauptsächlich von dem erwarteten Ereigniß im Hause Lommel abhängig, welchem der gütige Gott einen glücklichen Ausgang gewähren wolle.7 Meine Frau grüßt Euch herzlich mit mir,

 Deinem Bruder Karl.