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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 11. Oktober 1874

Lieber Karl!

Für Deine brüderlichen Wünsche1 zu meinem Geburtstage2 sage ich Dir meinen herzlichsten Dank. Es sind seitdem freilich so viele Eindrüke, Arbeiten und Mühen dazwischen getreten, welche mich auch nicht zu einer früheren Beantwortung kommen ließen, daß ich mich schon in der vollen Fluth dieses neuen Lebensjahres bewege. Ich habe dasselbe wohl mit der unabweislichen Gewißheit begonnen, daß ich damit in das Alter eingetreten bin, aber doch mit innigstem Dank und fröhlichem Gemüth. Ich konnte nur meinem Gott mit Lob und Preis danken, daß Er mich bis dahin so gnädig geführt und mich in allen Perioden des Menschenlebens mit so reichem Segen ausgestattet und beglückt hat. Es war reich an Mühe und Arbeit, darum ist es auch köstlich gewesen3 und ebenso hat es an Erquickung des Herzens zu allen Zeiten, selbst an den trüben und schmerzlichen Tagen, welche nicht ausbleiben können, niemals gefehlt. In dieser Welt voll Versuchung und Kämpfe muß man wahrlich schon recht dankbar sein, wenn man, ich möchte sagen, mit einigem Anstand, jedenfalls ohne schwer verletztes Gewissen das Alter erreicht. Nun bleibt noch eine kurze Gnadenfrist zu bestehen, und wir gehen ein zu der Ruhe, die verheißen und vorhanden ist dem Volke Gottes. Ich spreche mit dem alten König: Meine Zeit in Unruhe, meine Hoffnung in Gott.4 Wenn schon mein bisheriges Leben in mancher Hinsicht reich an Unruhe war, so wächst dieselbe jetzt nur noch mit jedem Tage und die Fluthen gehen immer höher, als ob sie uns verschlingen möchten. Mit dem Jahr 1870 konnte man hoffen zu einem Abschluß der Zeitgeschichte und dem Beginn einer Periode, wenn auch schwieriger, doch immerhin friedlicher Entwicklung gekommen zu sein. Statt dessen sind dämonische Mächte entfesselt worden, die Kirche, Staat und Gesellschaft in Zwietracht und Gährung bringen und zu neuen, noch ganz ungewissen Gestaltungen treiben. In dem Kampfe mit der katholischen Kirche haben sich meine Befürchtungen bis jetzt hinreichend erfüllt und wenn sie auch zeitweise und lokal manchen Schaden erleiden wird, so erwarte ich doch, daß sie große Triumphe im Großen und Ganzen erreichen und in Deutschland zu einer ungeahnten Herrschaft gelangen werde. Die Irreligiosität in den gebildeten wie in den unteren Klassen des Volks bereitet ihr eine Wüste kirchlichen Lebens, in der sie ihre Mission mit Erfolg treiben kann. Die einzige Macht, welche nach Geschichte und Erfahrung ihr darin Widerstand leisten und sie besiegen kann, weil sie eine höhere Wahrheit, das lautere Evangelium besitzt, ist die evangelische Kirche; sie wird aber von dem Liberalismus zerrissen und unterwühlt, und von dem Staate in thörichter Verblendung geschlagen und gefesselt, und verkümmert in Armuth und Schutzlosigkeit. Aber ebenso habe ich die gewisse Zuversicht, daß die evangelische Kirche, wenn auch ver- muthlich in neuen Formen, aber auf dem festen Grunde des göttlichen Wortes und ihrer Bekenntnisse, doch allein die Siegerin sein und bleiben werde. Sie wird sich aber vom Staate loslösen und durch eigene Kraft unter Gottes Beistand entwickeln müssen. Es sind in ihr viel mehr Kräfte des Geistes und Glaubens, als jetzt Manche nach äußerem Anschein des öffentlichen Lebens meinen, und durch die Schwäche und Noth der Zeit werden sie auch zur Aktion getrieben werden. Der 1ste October bezeichnet durch die Einführung der Civilehe eine tiefgreifende Veränderung, welche auch zunächst als eine schwere Niederlage der Kirche mit vielem Abfall erscheinen, ihr aber doch zuletzt zum Heil und Segen gereichen wird. Im nächsten Monat ist in unserem Lande die Berufung der Provinzialsynoden zu erwarten; sie werden auch die Krisis in der Kirche beschleunigen; sie werden von großem Einfluß sein, indem sie einen schweren Kampf der Gegensätze herbeiführen; wer will den äußeren Erfolg und Ausgang voraussagen? Aber wenn durch die Macht des geistigen Kirchenregiments, so wie des Staats und der liberalen Strömung auch die konfessionelle Parthei Niederlagen erfahren sollte, so wird sie doch durch das Schwert des Glaubens Siegerin bleiben. Den Liberalismus überfällt jetzt selbst ein Grauen über seine Erfolge; er sieht dabei überall Zerrissenheit ohne Ende und er weiß die zerstörenden Kräfte, welche er entfesselt hat, nicht mehr zu bändigen. Unsere Lebenszeit ist nur noch kurz zugemessen; der Lauf der Welt verlangt auch, wenn Alles jetzt mit Dampf getrieben wird, doch längere Perioden; wir werden davon nur ein kleines Stükwerk hier mitansehen können; die Zuversicht werde ich aber immer behalten, daß Gott, der Herr, dies Alles auch für unser deutsches Vaterland zum Segen herrlich hinausführen wird!

In solcher Zeit müssen wir besonders dankbar sein, wenn wir im eigenen Hause ein Asyl des Friedens haben und dies ungetrübt genießen dürfen. Gott sei Dank, kann ich dies von meinem Hause sagen; Frau und Kinder sind wohl, auch Marie mit ihrem kleinen Konrad in Posen. Willi wird in acht Tagen wieder bei uns einziehen, nachdem er in Alt-Landsberg seine sechsmonatliche Station mit Befriedigung absolvirt hat; er will nun beim hiesigen Stadtgericht arbeiten.

Du wirst gegenwärtig noch in München verweilen; doch sende ich diesen Brief nach Erlangen, damit er richtig in Deine Hände gelange. Deine Briefe habe ich sämmtlich, wie Du mir notirt hast5, erhalten und meines Wissens auch beantwortet. Den lieben Onkel Gottlieb und Tante Thekla bitten wir unsere herzlichen Grüße zu überbringen; wir hörten von ihnen von dem Ober-Tribunalsrath Edinger und Frau, die mit ihnen in Partenkirchen waren. Die dortigen Kreise werden von dem Uebertritt6 der Königin Mutter erregt sein; solche Erscheinungen können in dieser Zeit kirchlicher Bewegungen nicht verwundern; so wenig bei uns der Hader von Bismark mit Harry von Arnim befremden kann; die Lösung der letzteren erscheint noch sehr zweifelhaft; der Inhalt der Briefe wird die Frage entscheiden; es ist aber eine schlimme Verkehrung der Zustände, wenn darüber das Berliner Stadtgericht Urtheil sprechen soll; man behauptet, daß die Briefe rückhaltlose Ausbrüche Bismarcks enthalten, welche sich wenig für die Oeffentlichkeit eignen und Arnim wohl berechtigen könnten, sie als private Briefe des Freundes zu betrachten.7

In dem Kreis unserer Freunde erregt die Verlobung von Charlotte Snethlage mit Landgerichtsrath Broicher in StraßburgElsaß – große Theilnahme; er ist freilich auch katholisch.

Anna Valentiner, geb. Lepsius, ist hier eines Töchterchens genesen, während der Mann auf der Reise nach China sich befindet, um dort den Durchgang der Venus zu beobachten.8

Deiner lieben Susanna und Kindern von uns Allen herzliche Grüße. In treuer Liebe Dein Bruder

Immanuel