Theure Geschwister1!
Da Ihr übermorgen Eure silberne Hochzeit2 feiert, so kommen wir auch zu diesem schönen Fest in Euer geschmücktes Haus mit unseren Grüßen und bringen Euch in dem großen Kreise Eurer Kinder, Verwandten und Freunde unsere innigsten Glück- und Segenswünsche. Wir freuen uns von ganzem Herzen mit Euch, daß es durch des Herrn Gnade Euch vergönnt ist, diesen festlichen Tag in erwünschter Gesundheit zu feiern; es ist ein Tag reich an dankbarer Erinnerung im Rückblick auf den für das Menschenleben großen und wichtigen Zeitraum, welcher die Jahre der vollen Lebenskraft umschließt; reich an Freude und Glük, und an gesegneter Arbeit, wohl nicht ohne manche Sorgen und Mühen und nicht ohne schmerzliche Erfahrungen; aber auch in dieser immer geleitet, getragen, getröstet und gestärkt von der gnädigen und barmherzigen Hand des Herrn. Welch ein Reichthum der Erlebnisse und der äußeren und inneren Erfahrungen liegt doch in einem solchen Zeitraum eines ernsten, gewissenhaften, strebsamen und arbeitsvollen Lebens. Gewiß ist was wir darin gethan und geleistet haben, nur immer ein Stükwerk von dem, was wir gewollt und erstrebt haben; aber nach vollendeter Ueberschau werden wir immer, und Ihr, liebe Geschwister vor Allen an diesem Festtage Eure Knien beugen, und vor dem Herrn bekennen: „Wir sind zu geringe aller Barmherzigkeit und aller Treue, die Du an uns gethan hast“3. So möge der gnädige Gott auch in den kommenden Jahren Eure Hülfe und Eure Stärke sein, Eure Arbeit fruchtbar werden lassen und Euch in dem Glük und der Liebe Eurer Kinder und Kindeskinder reichlich segnen!
Da wir das Bedürfniß haben, auch zu dem Schmuck Eures Hauses an diesem festlichen Tage beizutragen, so werdet Ihr, wie ich hoffe, bis dahin aus Berlin eine Kiste erhalten, welche Euch eine Fruchtschaale, wenigstens mit dem Glanze des Silbers zu Ehren des Festes, bringen soll, um beim Festmahle an die fernen Geschwister in freundlichem Andenken zu erinnern.
Meine Kinder, mit Einschluß von Marie, welche jetzt mit ihrem kleinen Konrad, einem allerliebsten, frischen, fröhlichen kleinen Jungen in unserem Hause verweilt, senden Euch auch ihre herzlichsten Grüße und Glükwünsche. Ihr habt auch kürzlich während der Reise Eurer Kinder einen solchen kleinen munteren Gast in Eurem großelterlichen Hause gehabt und er wird gewiß Euch am silbernen Fest sein Sträußchen reichen; es gehört dies zu den besonders gesegneten Freuden des Alters, für welche wir vorzugsweise dankbar sind.
Dein gestern eingegangener Brief4 bringt uns leider die Nachricht, daß der gute Onkel Wilhelm in Frieden heimgegangen ist. Es wird dadurch die Festzeit in der Familie schmerzlich getrübt, wie in unserem irdischen Leben Freude und Trauer oft nahe zusammentreten und uns immer an die ernsten Mahnungen erinnern. Gewiß hinterläßt der liebe Onkel das Gedächtniß eines treuen Mannes von großer Herzensgüte, von Allen, die ihn kannten, geliebt und geehrt. Für die Seinigen und die ganze Familie ist es eine tiefgreifende Veränderung; es rükt die jüngere Generation in die Stelle der Väter; möge sie ebenso treu, wie diese erfunden werden.
Von den Bewegungen und Erlebnissen in meinem Hause wird Euch meine Frau das Nähere berichtet haben; wir hatten viel verwandtschaftlichen Besuch und manchen Wechsel der Eindrücke. Ich muß mich dabei zusammenhalten in den Pflichten und Aufgaben, welche mir mein Amt auferlegt. Diese Woche ist besonders besetzt mit kirchlichen Festen der Missionsvereine und Pastoral-Konferenzen, welche den ganzen Tag mit Beschlag belegen, aber viel Anregung bringen. Es ist eine gährende Zeit, in der der Einzelne festen Grund behalten muß, um den Ereignissen und Zuständen, welche kommen mögen, sicher begegnen zu können.
Der armen Tante Frida, welche nun zur Leiche ihres Mannes zurükgekehrt sein wird, werde ich in den nächsten Tagen schreiben, um ihr meine herzliche Theilnahme auszusprechen.
Eure Kinder grüßen wir insgesammt; insbesondere die liebe Anna, welche sich von den Freuden und Anstrengungen der letzten bewegten Wochen hoffentlich bald wieder erholen wird. Möchte auch Euer Georg Euch ferner durch gründliche Befestigung seines Charakters Freude machen.
In herzlicher Liebe Euer Bruder