Der Monat naht sich seinem Ende, und da ich gern Deinen Wunsch und Vorschlag zu erfüllen mich bemühen werde, so darf ich nicht mehr säumen, Deinen lieben Brief vom Neujahrstage1 zu beantworten. Für die Zukunft werde ich jedoch zuweilen genöthigt sein, Deine Nachsicht in Anspruch zu nehmen, da bei mir unvermeidlich Zeiten eintreten, in denen ich zufrieden sein muß, wenn es glüklich gelingt, täglich das Nothwendige zu erledigen. Wieviel sehr wünschenswerthes muß da oft zurückbleiben, und ich muß mich mit dem schmerzlichen Trost beruhigen, daß der Mensch immer nur ein Stückwerk des Vollkommenen sein wird. Dies fällt mir besonders schwer in dieser mächtig bewegten Zeit, wo in der Kirche außerordentliche und schwerwiegende Aufgaben vorliegen, an deren Lösung ich viel mehr, als ich nach Zeit und Kraft leisten kann, mithelfen möchte. Da seid Ihr Professoren besser daran, als wir Geschäftsmänner, da es Euer Beruf fordert und Eure Lebensweise gestattet, sich in größeren Arbeiten von allgemeinem Interesse zu konzentrieren. Oft genug möchte ich wünschen, meines Amtes entledigt zu sein, um in voller Freiheit, wie Herz und Sinn es begehren, wirken zu können, um so mehr als mein bestes Verdienst darin besteht, in ausdauernder Vertheidigung die Kirche und ihre treuen Diener gegen unberechtigte Angriffe zu schützen. Diese Arbeit wird durch die Einführung der neuen Generalsynodal-Ordnung mit der hinzugefügten Demokratisirung der Kreis- und Provinzialsynoden reichlich vermehrt werden. Die zu besorgenden Folgen solcher zweckwidrigen Einrichtungen treten nur zum Theil unverzüglich hervor, wo dafür wie in Berlin und anderen größeren Städten ein empfänglicher Boden vorhanden ist. Die weitere Entwicklung ist jedoch unvermeidlich; sie führt zur Verweltlichung und Zerstückelung der Kirche. Auch das ausgebildete Gemeindeprinzip und die Herrschaft der Majoritäten werden durch die Gegensätze der sich schneidenden Kreise verschärft und das Kirchenregiment ist zu ohnmächtig, die Autorität der Fundamente und Heilsgüter der Kirche aufrecht zu erhalten. Der Liberalismus in der Kirche ist ihre größte innere und äußere Schwächung; er macht die Kirchen leer und ihre Pastoren verächtlich. Eine liberale evangelische Kirche ist nicht fähig, der katholischen Kirche Widerstand zu bieten.
Allerdings fehlte noch der Generalsynodal-Ordnung die landesgesetzliche Sanktion, und es ist sehr zweifelhaft, ob sich die Majorität des Abgeordnetenhauses dazu entschließen wird. Zwar wird Minister Falk seinen ganzen Einfluß einsetzen, und derselbe ist in der gegenwärtigen Situation um so mehr von Gewicht, als viel Neigung zu einer Verständigung mit der katholischen Kirche sich kundgiebt. Bei dem Liberalismus bewährt sich aber immer von Neuem das Sprichwort l’appétit vient en mangeant2; die ihm in der gedachten Ordnung gemachten Konzessionen, welche seine Zustimmung erkaufen sollten, sind ihm nicht genügend, um ihn zu sättigen. Er verlangt auch für die Generalsynode Gemeidewahlen und die Aqisation3 dafür hat begonnen. Inzwischen ist die Generalsynodal-Ordnung Kirchengesetz geworden4, und die Liberalen können nun ruhig abwarten, daß und wie die neue Organisation der Kreis- und Provinzialsynoden ins Leben tritt. Werden ihre Erwartungen mit dem ersten Ausfall der Wahlen nicht befriedigt, so werden sie auch so lange, bis sich dies im Laufe der Zeit bessert, die landesgesetzliche Sanktion zurückhalten.
Mit der Civilehe seid Ihr nun auch beglückt5; es ist dies auch eine Einrichtung, welche ihre Wirkungen für die Kirche und die sittlichen Zustände des Volkes erst im Lauf der Zeit entwickelt. Ich bin sehr gespannt auf die statistische Aufnahme in Preußen für das verflossene Jahr; die erste Aufregung war in diesem schon vorüber, da die Civilehe bei uns schon mit dem 1ten September 1874 eingeführt wurde. Auf dem Lande werden bis jetzt für die Kirche im Allgemeinen wenig Nachtheile eingetreten sein; dagegen wird es in den großen Städten und in den Fabrikorten, wo sozialistische Einflüsse wirksam sind, eine vorherrschende Sitte der Arbeiterbevölkerung, ihre Ehe ohne Trauung zu schließen und die Kinder nicht zu taufen. Es zeigt sich diese Sitte als Terrorismus gegen solche einzelne Glieder, welche besonders auf den Wunsch ihrer Frauen geneigt sind, das Gebot und die Ordnung der Kirche zu achten. Die evangelische Kirche wird durch diesen Abfall fortschreitend verwüstet, während die katholische Kirche kaum davon angefochten wird. Das sind so einige Aussichten für die Zukunft unserer Kirche und da möchte man wohl Riesenkräfte haben, um dagegen anzukämpfen. Der beste und einzige Trost bleibt aber das zuversichtliche Vertrauen zu dem allmächtigen Regiment unseres Gottes, der uns nicht wird versucht werden lassen über unser Vermögen. Ein treffliches Buch über das Recht der Eheschließung von Professor Sohm in Straßburg6, was ich jetzt studire, gewährt mir viel Belehrung.
Aus unserem Hause hat Clara kürzlich berichtet; von den Kindern in Waldenburg haben wir heute wieder erfreuliche Nachrichten erhalten. – Leider theilte uns in diesen Tagen ein Brief meiner Schwägerin Pauline, Herrmanns Wittwe, aus Danzig mit, daß sie auf dringendes Verlangen der Aerzte wegen Lungenleiden nach Montreux gehen muß.
Wir freuen uns sehr, Dich lieber Karl, im März hier wieder erwarten zu können; die Gaststube steht leer und für Dich bereit; sie ladet Dich herzlich ein und erwartet bestimmt, daß Du sie nicht verschmähen wirst; dieselbe Erwartung hegen alle Bewohner des Hauses.
Von Onkel Benoits Heimgang erhielt ich die Anzeige und habe Lina meine aufrichtige Theilnahme ausgesprochen. Für den alten blinden Onkel war es wohl eine Erlösung; es hat mir doch sehr leid gethan, daß ich es im Herbst nicht einrichten konnte, ihn noch in Henfendeld zu begrüßen. Jetzt wird gewiß Johannes dorthin ziehen.
Herzliche Grüße der lieben Susanna; wir hoffen, daß sie sich von ihrem Unwohlsein wieder ganz erholt haben wird; viele Grüße auch Deinen Kindern mit freundlichster Einladung von Deinem Bruder Immanuel