Mit inniger Theilnahme haben wir Deine Nachricht von dem seligen Heimgang unserer lieben Tante, Deiner Schwiegermutter empfangen und fühlen mit Euch die Größe des Verlustes, den Ihr erfahren. Sie war ein treues Mutterherz, das in der rastlos sorgenden Arbeit und der Aufopferung für Andere mit fröhlichem Gemüth ihren segensreichen Beruf gefunden hat. Sie ruht nun von ihrer Arbeit und ihre Werke folgen ihr nach, geleitet von der dankbaren Liebe der Ihrigen. Es ist ein überaus freundliches schönes Bild der Treue, welches sie besonders ihren Kindern und Enkeln zurükgelassen als ein theures Andenken, das in ihren Herzen unauflöslich sein wird. Wohl ist es aber sehr schmerzlich, sich von einem solchen Mutterherzen, das auch für alle Kinder und Enkel den lebensvoll gegenwärtigen Mittelpunkt gebildet hat, für dieses irdische Leben trennen zu müssen, und die Thränen, die ihr nachgeweint werden, sind sehr gerechtfertigt. Es wird ihr aber doch ein Jeder die Ruhe im seligen Frieden von Herzen gönnen und die Gnade des Herrn preisen, daß Er ihr als Abschluß eines reich gesegeten Lebens nun auch noch ein schmerzloses Ende bereitet hat.
Wir haben mit der Antwort auf Deinen Brief1 gezögert, weil wir in diesen Tagen die von der Hochzeit2 in Lienichen zurükkehrenden Verwandten hier erwarteten, denen wir auch die Trauernachricht mitzutheilen hatten. Sie haben sie erst gestern auf der Durchreise von uns erfahren, mit Ausnahme der guten Tante Thekla, welche von der Hochzeit und der Reise recht angegriffen war und bei welcher es wünschenswerth erschien, sie noch erst ungestört nach Leipzig gelangen zu lassen, wohin sie noch gestern Abend mit Wilhelminen und Siegmund gefahren ist. Wie Ihr wohl schon wissen werdet, war der liebe alte Onkel Gottlieb auf der Fahrt von Nürnberg aus unter Weges an einem plötzlichen Blasenkrampf schwer erkrankt, und mußte in Altenburg liegen bleiben, um dort erst ärztliche Hülfe zu suchen. Am folgenden Tage in Leipzig angelangt, hat er sich hier unter Annas liebevoller Pflege erholt; doch mußte er die Weiterreise zur Hochzeit aufgeben, und da sein Zustand zunächst keinen Anlaß zu Besorgnissen gab, so setzte Tante Thekla mit Wilhemine die Reise fort und kamen am Sonnabend3 Abend hier an. Es war ein gemüthliches Zusammentreffen, daß sie nun am Sonntag mit uns in aller Ruhe meinen Geburtstag4 verleben konnten. Am Montag früh brachte ich die beiden Frauen zur Stettiner Bahn. Die Hochzeit ist dann zur allseitigen Befriedigung im großen Familien-Kreis glüklich, fröhlich und mit reichem Schmuck verlaufen. Gestern kamen sie mit dem jungen Ehepaar nebst Siegmund, Theodor und dessen Frau, die wir bei dieser Gelegenheit auch kennen gelernt, hier an. Das junge Paar brachte nach der Abreise der anderen noch den Abend bei uns zu, und wird heute über Halle nach Leipzig nachgefolgt sein. Am Montag werden sie wohl Alle, wenn es der Zustand des Onkels es5 irgend gestattet, die Rückfahrt nach der Heimath antreten.
Die junge Frau August6 macht einen sehr angenehmen Eindruck; sie ist aber von zarter Gesundheit und es bleibt zu wünschen, daß der gute August ihr in seiner Feldmühle ein glükliches Heim bereiten möge, damit in ihr keine Sehnsucht nach den reichen und schönen Familien- und Bildungskreisen in dem wackeren Pommernland erwache.
Für Deine brüderlichen Glükwünsche zum Beginn meines 63sten Lebensjahres sage ich Dir herzlichen Dank. Meinem Herrn und Gott bin ich von ganzer Seele dankbar, daß und wie Er mich bis zu diesem Tage so unendlich gnädig geführt und in Allem überaus reich gesegnet hat, und ich muß sagen und rühmen, daß jedes Jahr immer noch schöner und reicher geworden ist. Es kann aber nicht immer so bleiben, hier unter dem wechselnden Mond; ich mache mich daher auf die Heimreise gefaßt und zunächst auf die Tage, die uns nicht gefallen mögen. Jedenfalls ist mir klar, daß ich Neues nicht mehr ergreifen, nicht einen anderen Beruf und Wirkungskreis mehr gewinnen und beherrschen kann. Ich vermag nur die Wege, in denen ich mich jetzt bewege, so weit die Kräfte und Jahre reichen, weiter verfolgen, und darin fühle ich mich ganz wohl und zu Hause, und das würde sich auch in der Hauptsache nicht ändern, wenn ich auch über kurz oder lang genöthigt werden sollte, nach jetzt beinahe vollendeten 40 Dienstjahren in den amtlichen Ruhestand zu treten. Dies werde ich aber so oft auch ich mir mit sehnlichem Verlangen die Freiheit erwünsche, nicht gewaltsam herbeiführen, sondern den entschiedenen Willen meines Herrn und Heilandes abwarten. Sobald aber diese Stunde schlägt, werde ich getrosten Muthes den Staub von meinen Füßen abschütteln, und mich wie eine Lerche mit fröhlichem Gesang in die Höhe schwingen. – Doch ich fange an zu fantasiren, und will, um die nöthige Nüchternheit zu bewahren, abbrechen. Dieser Brief wird Dich vielleicht erst in München erreichen. Grüße auch dort herzlich Deine lieben Kinder, in deren Kreis Du Dich von der Prüfungs-Kommission7 ausruhen kannst. Clara schreibt auch der lieben Susanna. Der Herr tröste und stärke Euch in Eurer Trauer!
In herzlicher Liebe Dein Bruder Immanuel