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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 15. Dezember 1876

Lieber Karl!

Wir waren schon seit mehreren Wochen durch Dein langes Stillschweigen in Unruhe versetzt und besorgten, daß bei Euch irgend eine Störung eingetreten wäre. Ich hätte auch schon früher angefragt, wurde aber stets durch so anstrengende und zum Theil aufregende Beschäftigung in meinem Amte behindert, daß ich keine Zeit und Stimmung dazu finden konnte. Es ist dies auch eine Wirkung des Alters, daß, wenn ich von einer Angelegenheit und Sorge stark ergriffen bin, es mir schwer wird, mich daneben noch mit anderen heterogenen Aufgaben eingehend zu beschäftigen. Ich werde umständlicher, schwerfälliger und kann ein bestimmtes Maaß der Arbeit nicht überschreiten. Dein Brief1 hat nun unsere Fragen nach Eurem Ergehen beantwortet; mit herzlicher Theilnahme haben wir aber dadurch erfahren, daß die liebe Susanna noch immer recht angegriffen ist. Sie hat in diesem Jahr viel durchzumachen und viel Sorgen zu tragen gehabt und muß nun leider erfahren, wie auch das Stillehalten und Schonung Bedürfniß und Pflicht werden kann. Der Hausmutter wird dies gewiß schwer; doch können nun die Töchter ihr helfen, sie vertreten und ihre sorgsame Liebe beweisen, und unter dieser Pflege dürfen wir hoffen, daß sie mit Gottes Hülfe auch bald wieder ihre rüstige Kraft gewinnen werde. Du wirst auch gewiß darauf halten, daß für ihre Wiederherstellung gründlich gesorgt werde; die Frauen müssen dabei zuweilen in voreiligem Thun in Schranken gehalten werden.

Das, wenn auch bedingte, Lob von Georgs Fleiß aus Deinem Munde ist mir sehr erfreulich gewesen. Man darf wohl bei der Beurtheilung und Behandlung von Menschen und Zuständen nicht sanguinisch sein; aber auch an ihnen niemals ungeduldig verzweifeln; das sage ich mir selbst oft genug; es ist aber auch auf Georg anzuwenden. Im Militairdienst scheint er nun in das richtige Fahrwasser gekommen zu sein; es gilt hier der Toast des alten Steinmetz, der vor Jahren bei einer festlichen Gelegenheit das „Muß“ als das herrlichste Wort in der Preußischen Armee leben ließ. Dieses Muß haben wir schwache Menschenkinder alle sehr nöthig; wie viel weniger würden wir ohne dasselbe leisten; es kommt nur darauf an, daß bei Jedem das richtige Muß als Zuchtmittel angewendet werde, und hoffen wir, daß dies jetzt bei Georg statt finde und sich als ausreichend erweise.

Aus unserem Familienkreis habe ich mitzutheilen, daß Schwager Theodor zum 1sten Dezember in den Ruhestand versetzt worden ist. Es ist ein langer aufregender Kampf vorhergegangen, der sich bis zu Beschwerden beim Kaiser erstreckte, zwar die Pensionirung, welche doch rechtlich in seiner Blindheit genügend begründet war, nicht verhindern konnte, aber doch eine für preußische Knappheit ganz außerordentliche Erhöhung der Pension auf 5000 Mark zur Folge hatte. Die äußere Veranlassung war die eingeleitete neue Organisation der Regierungsbehörden; die wesentlich mitwirkende Ursache war die Abneigung des Oberpräsidenten von Jagow, dem er durch seine Streitsucht lästig geworden war. Wenn auch seine Existenz durch die Pension, namentlich hinsichtlich seiner besonderen Bedürfnisse, wie Bediensteter, Vorleser etc. gedekt ist, so ist der Verlust einer festen und geordneten Beschäftigung am schwersten zu tragen und ist es ihm bis jetzt noch nicht gelungen, darin zu einer angemessenen Lebensordnung zu kommen.

Ich gehe auch seit längerer Zeit, ich möchte fast sagen Tag und Nacht mit dem Gedanken meiner Pensionierung um, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wenn auch durch die Verhältnisse gedrängt, da meine Lage zwischen der Demokratie von Unten und dem Liberalismus von Oben immer unerträglicher wird. Ich schmachte nach Freiheit, um von den Fesseln des Amts und seiner Gebundenheit erlöst, mit ganzer Kraft für die noch gebliebene kurze Lebenszeit für die Kirche wirken zu können. Ich mag mein Gewissen nicht mit dem Vorwurf der Voreiligkeit und des Eigenwillens zu belasten, sowohl mit Rücksicht auf meine Familie und die Entbehrungen, die ich ihr auferlegen müßte, als in Betracht der Zustände der Landeskirche und des persönlichen Vertrauens, das ich in ihr besonders unter den Geistlichen der Provinz genieße. Von ihnen kann ich immer noch manches Uebel abwenden; auch würde mein Abgang den noch größeren Verlust von Büchsel zur Folge haben, der dann nothwendig auch die General-Superintendantur nieder legen würde. Büchsel wird aber ohnehin nach menschlichem Ermessen nicht lange mehr wirken können; er wird recht alt und kann bald vom Herrn abberufen werden. Dies hält mich noch am meisten fest im Kirchenregiment, und dann möchte ich gern, wenn es geht, den Zeitpunkt abwarten, da Willi nach bestandenem Examen zu einer selbstständigen Stellung gelangen wird; dies läßt sich aber erst in 1½ Jahren erwarten. Meine gesundheitlichen Kräfte werden auch mürbe und sind von den unablässigen Reibungen und Kämpfen angegriffen; die Nerven wollen es nicht mehr aushalten. Meine Stellung im Kollegium wird auch täglich schwieriger; nun geht jetzt Konsistorial-Rath Graf Unruh ab und an seine Stelle schickt mir der Evangelische Ober-Kirchenrath einen Herrn Meyerhoff, einen Schüler von Sydow. Wenn ich daran denke, daß ich im nächsten Jahre auch noch die äußere Kirchenverwaltung von den Regierungen übernehmen soll und zwar voraussichtlich mit unzureichender Hülfe an neuen Räthen, so werde ich froh sein, wenn, wie ich täglich erwarte, ein Konflikt eintritt, der mich berechtigt, meine Pensionierung zu verlangen. Doch wie Gott will! Herr, wie du willst, so schiks mit mir im Leben und im Sterben!2

Zu Weihnachten wünschen wir Euch ein frohes Fest und zu Neujahr einen gesegneten und hoffnungsreichen Eingang in das neue Jahr! Herzliche Grüße von Allen an Alle. In treuer Liebe Dein Bruder

Immanuel