XML PDF

Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 24. April 1877

Lieber Karl!

Dein lieber Brief1 hat mir zu meiner Freude Deine glükliche Rückkehr gemeldet, und auch befriedigende Nachrichten über das Befinden der lieben Susanne gebracht. Wir wollen hoffen und Gott bitten, daß Er diese Besserung zur Genesung führen möge. Leider ist das Wetter für solche Kranke noch immer sehr ungünstig und das Frühjahr kann nicht zum Durchbruch kommen. Von Waldenburg lauten auch die Nachrichten recht erfreulich; Appetit und Schlaf haben, wenn auch langsam die Kräfte gestärkt und Maria kann schon einen Theil des Tags im andern Zimmer zubringen; doch sind ihre Nerven noch sehr angegriffen und verlangen große Schonung und Ruhe und wird Clara wohl noch bis Ende nächster Woche zur Pflege und wirthschaftlichem Beistand bleiben müssen. Das Töchterchen soll gut gedeihen.  

Am vergangenen Sonnabend2 hatte ich eine Audienz beim alten Kaiser; am Abend reiste er nach Wiesbaden ab. Es war mir eine große Ueberraschung, als ich am Freitag Abend wie ich von einer Gesellschaft nach Hause kam, ein eigenhändiges Billet des Kaisers vorfand, in dem er mir schrieb:
„Ich ersuche Sie morgen den 21sten um ¼10 Uhr zu mir zu kommen, um über Ihre Differenzien mit dem Ober Kirchenrath mündlich Aussprache mit Ihnen zu nehmen, ehe ich in der ganzen Sache entscheiden kann.“

Wilhelm

An
den Konsistorial Präsidenten Hegel.

Auch die Adresse hatte er auf dem einfach zusammengelegten und ohne Kouvert mit dem mit kaiserlichen Oblaten geschlossenen Billet eigenhändig geschrieben. Als ich darauf am andern Morgen im Palais vor ihm erschien, begrüßte er mich mit liebenswürdigster Freundlichkeit und Händedruck und äußerte sein Erstaunen, daß ich in Uniform gekommen. Er ließ mich dann sich gegenüber setzen und sprach lange über meine Sache, mißbilligte die Verfügung des Evangelischen Ober-Kirchenraths, und da er andeutete, daß man mir den Vorwurf mache, daß ich nicht geneigt sei, die bestehende Verfassung, mit der ich nicht einverstanden sei, gehörig auszuführen, da erwiederte ich mit der bestimmten Versicherung des Gegentheils, erklärte aber, daß es mir Gewissens- und Lebensbedürfniß sei, meine Ansichten offen auszusprechen, und alle meine früheren Vorgesetzten, die verschiedensten Minister-Präsidenten3, auch selbst Bismark, bei dem es doch nicht leicht gewesen, hätten dieses Recht des Beamten ge- achtet und habe ich mir dadurch ihr Vertrauen erworben; wenn aber der Evangelische Ober Kirchen Rat mir dies jetzt versage und der Art zurückweise, so sei dessen Haltung unhaltbar und unerträglich; ich wünschte herzlich den Ruhestand, den ich erbeten; wenn er aber verlange, daß ich im Amt bleiben sollte, so würde ich mich diesem Befehle mit willigem Gehorsam fügen. Ich schilderte dann näher die Bedrängniß der Geistlichen, welche durch die neueren kirchlichen Wahlen ganz unkirchliche Aelteste erhalten hätten; ich hielte es für meine Pflicht sie in dieser schwierigen Lage zu schützen, während der Evangelische Ober Kirchen Rat auch geringe Vorhaltungen mit aller Schärfe rüge; und Seine Majestät der Kaiser hörte meine ausführliche Erwiederung und Vertheidigung freundlich und aufmerksam an, und sagte zum Schlusse, daß der Evangelische Ober Kirchen Rat ihn über die Vorgänge in Zion nicht gehörig unterrichtet und er daher noch näheren Bericht darüber erfordert habe; erst wenn dieser eingegangen, werde er entscheiden können und würde ich mich daher noch einige Zeit gedulden müssen. Wie ich damals zum Konsistorial-Präsidenten ernannt worden, hätten sich Alle einstimmig darüber gefreut4; warum denn das anders geworden. Er entließ mich mit mehrfach wiederholtem Händedruck. Die Audienz dauerte über 35 Minuten. Da nun auch die Zeitungen die Nachricht brachten, daß ich die Audienz gehabt, so ist jetzt alle Welt von der Ueberzeugung erfüllt, daß ich im Amt bleiben werde, und ich muß dies auch für wahrscheinlich halten. Doch sehe ich dem Ausgang mit aller Ruhe entgegen; muß ich bleiben, so werde ich die schwere Arbeit unter noch schwierigeren Verhältnissen getrost fortsetzen; werde ich davon erlöst, so werde ich die Freiheit fröhlich genießen, den Kampf aber mit allen Kräften in anderer Weise und wie ich meine, fruchtbarer fortsetzen. Doch wie Gott will!

So eben ist die Eisenbahndecke mit ihrer überraschenden süßen Nürnberger Beilage angekommen und ich danke verbindlichst für diese schmackhafte Zuthat, von der ich auch einen Theil gelegentlich nach Waldenburg gelangen lassen werde.

Willi und Clärchen senden herzliche Grüße. Auch der lieben Susanne und Deinen Kindern bitte ich meine freundlichsten Grüße zu überbringen.

In treuer Liebe
Dein Bruder
Immanuel