Ich danke Dir für Deinen lieben Brief1 und Deinen brüderlichen Geburtstagswunsch2, den ich schon am Vorabend erhielt. Lange schon wollte ich Euch von uns, besonders von Susanna Nachricht geben; gern hätte ich erst eine entschiedene bessere Wendung ihres Befindens abgewartet. Mit sehnlichem Verlangen sahen wir der wärmeren Jahreszeit entgegen, die immer noch nicht kommen wollte. Der ganze Mai war rauh oder kühl, die Kranke blieb oben bei mir meist zu Bett in der Schlafstube, Nachmittags von 2–6 Uhr in meinem Zimmer auf dem Lehnstuhl. Am letzten Mai brachten wir sie in das Gartenzimmer hinunter, um mit wenigen Schritten von da ins Freie auf die Verandah zu kommen – nur wenige Schritte zu thun fällt ihr schwer! Das Hinuntertragen war für sie mit größerer Aufregung verbunden, als sich ahnen ließ, und als Folge der letzteren müssen wir wohl den schweren Anfall betrachten, der sie am Sonnabend 2. dieses Monats Nachmittags traf und beinahe ½ Stunde dauerte, wobei sie lange vergebens nach Luft rang und der Erstickung nahe war. Der Arzt sucht den Grund dieses bedenklichen Zufalls, der glücklich vorübergegangen ist, in Schwäche des Herzens und hat dafür Digitalin3 verordnet. Die Athmungsbeschwerden dauern dabei fort und ebenso der Husten. Fester Schlaf wird jeden Abend nur durch Chloral4 bewirkt. Seit jenem Anfall blieb die liebe Kranke drei Tage ganz im Bett und stand gestern und vorgestern nur ein bis zwei Stunden auf, im Lehnstuhl sitzend; so hat sie sich ziemlich wieder davon erholt und beinahe den früheren Stand wieder erreicht. Natürlich ist die allgemeine Schwäche groß, sonst das Befinden erträglich. An ein eigentliches Besserwerden ist sicher nicht zu denken, wenn nicht ein Stillstand in dem katarrhalischen Lungenleiden eintritt, gegen welches es, wie es scheint, kein ärztliches Mittel giebt. Ihr könnt Euch denken, wie schwer die mich nie loslassende Sorge mich drückt und wie wehmüthig die gestrige Geburtstagsfeier war; doch bin ich mit den Kindern und Lommels auf ein paar Stunden auf den Rathsberg gegangen. Außerdem hat der Tod an die Thüren unserer nächsten Kreise in den letzten Tagen angeklopft.
Die treffliche Hofräthin Döderlein, schon seit mehreren Jahren erblindet, aber immer gleich liebevoll, heiter und theilnehmend, ist am 3. dieses Monats Morgens, Betty Schmid, Tochter des Theologen und Freundin unserer Anna, am 4. Juni gestorben, beide Beerdigungen folgten zwei Tage aufeinander. Auch unsere liebe Kranke wurde durch diese Todesfälle, die ihr nicht verborgen bleiben konnten, sehr nahe berührt; sie hatte ihren eigenen Zustand oft mit dem der Genannten verglichen. Wir können nur vertrauen auf Gott, daß Er es zum besten lenken werde, und hoffen von einem Tag auf den andern; wie viele sind nun schon in dieser Weise vorübergegangen!
Ich fühle ganz mit Dir die Schwierigkeit Deiner Lage und wünsche zunächst nur, daß es Dir möglich sei, die gewohnte und kaum zu entbehrende Sommerfrische in Johannisbad zusammen mit Clara zu genießen, Kinder und Enkel in Waldenburg wiederzusehen. Herzlich freue ich mich über die Wiedergenesung von Marie und Willi. Unsere gute Lina in Nürnberg hatte gleichfalls ihre Tochter Rosa in schwerer Krankheit zu pflegen, die sie von der sonst so schönen und befriedigenden Reise mit ihrem Mann aus Italien zurückbrachte, und zu derselben Zeit lag der Sohn Benno an einer Brustentzündung krank: beide sind glücklich wiederhergestellt. Von unserer Anna habe ich einen lieben Geburtstagsbrief erhalten, worin sie von einer schönen Parthie zu Dampfwagen, Schiff und Fuß nach, auf und am Starnberger See am vergangenen Sonntag5 und von dem guten Befinden ihres Mannes und Gedeihen ihres Kindes Otto berichtet. Georg hat, nachdem er seit Mitte März den Militärdienst in der Kaserne und draußen geleistet, erst jetzt zu Anfang Juni wieder Urlaub erhalten, um sich abermals auf die Fähnrichs Prüfung zum Eintritt in die Kriegsschule, die im September stattfindet, vorzubereiten: möchte es ihm dißmal besser gelingen!
Herzliche Grüße an Klara von Susanna und mir, wie sich versteht von der ersteren gleicher Weise an Dich, und von uns beiden an Eure Kinder