XML PDF

Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 11. November 1877

Lieber Karl!

Deine freundlichen Briefe vom 15ten vorigen Monats2 und 4ten dieses Monats3 haben uns wieder das in der Hauptsache unveränderte schmerzliche Bild vom Leiden der lieben Susanna vorgeführt, welches auch Dich stetig mit niederdrückender Sorge erfüllt. Ich kenne diesen ernsten und schweren Zustand aus eigener Erfahrung4, da ich auch, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, erst vor der Hausthür einen Augenblick stille stand, nur das Herz in der Ergebung und festen Sammlung zusammenfassen. Wir werden in solcher Zeit ebenso in die Tiefe, als auf die Höhe des Glaubens geführt, der die Kraft zu gewinnen sucht, welche auch alles Leid dieser Zeit überwindet. Dadurch erlangen wir auch selbst eine Erkenntniß und Erfahrung, welche gesegnet ist für Zeit und Ewigkeit. In guten Tagen läßt sich leicht dahinleben; es muß aber für das Menschenherz eine Kraft geben, welche auch in den schweren Tagen sich bewährt und uns zum Siege helfen kann. Möge der Herr Dir und der lieben Susanne diese Kraft Seines Geistes in reichem Maaße verleihen, daß sie Euch tröste und stärke in der Hoffnung des ewigen Lebens! – Eine recht nützliche Helferin in solchen Tagen ist die stetige Arbeit und diese ist ja auch ohnehin Deine treue Begleiterin im ganzen Leben gewesen. Den Bericht über die letzte Konferenz der historischen Kommission habe ich in der Zeitung mit Interesse gelesen5; es wird dieses Zusammensein mit Deinen gelehrten Freunden und dann der erquikliche Aufenthalt bei den Kindern in München Dir auch zur Erfrischung gedient haben. Deinen dritten Band von Köln6 habe ich noch nicht erhalten; es wird mir aber, sofern ich Zeit finde, sehr interessant sein, von Deiner Geschichte der Verfaßung7 Kenntniß zu nehmen. Ich habe mich in früheren Zeiten mit der Geschichte des deutschen Städtewesens im Mittelalter näher beschäftigt; auch die wissenschaftliche Aufgabe bei meinem Staatsexamen über Nürnberg gab mir dazu eine erneute Veranlassung.

Von der Gselliusschen Buchhandlung wirst Du wohl inzwischen bereits Rosenkranzs Biographie8 und die beiden Bände der vermischten Schriften9 erhalten haben. Bei der Auswahl der noch ungedruckten Briefe, insbesondere der Niethammerschen Korrespondenz brauche ich gewiß nicht erst eine scharfe Sichtung des entweder persönlich, oder zeitgeschichtlich Interessanten für das größere Publikum zu empfehlen.  

Unsere kirchlichen Kämpfe, welche Du erwähnst, nehmen allerdings an Stärke zu, und scheinen zu einer Entscheidung, ob der liberale Unglaube in der bestehenden Landeskirche in Lehre und im Amt berechtigt ist oder nicht, zu treiben. Bei der einfachen büreaukratischen Konsistorial-Verfassung war eine Erhaltung des nebeneinander Stehens und Wirkens der entgegengesetzten Richtungen in der Kirche möglich und konnte der Kampf durch eine besonnene Leitung gezügelt werden. Mit der Entwicklung der Synodalverfassung kommt aber der Kampf zum offenen Ausbruch, und wird auch das Kirchenregiment genöthigt, wie der alte Kaiser sagt, Farbe zu bekennen. Daher darf man den nächsten Provinzialsynoden, welche nach Ostern10 zusammenkommen sollen, und dann der Generalsynode, welche im Jahre 1879 zu erwarten ist, mit Spannung entgegen sehen. Wie es kommen mag, wer will das sagen? Ich habe es mir auch abgewöhnt, Prophet sein zu wollen. Doch giebt es auch im Reiche des Geistes einfache Naturgesetze, welche sich mit Nothwendigkeit vollziehen, und dazu gehört der Spruch: „Was der Mensch säet, das wird – oder muß – er erndten“11. Unter einem lithographirten Bilde unseres Vaters steht der sehr wahre Grundsatz: „Die rechte Polemik ist die, welche den Gegner in seiner Stärke überwindet.“12 Die Macht des Liberalismus besteht in der Richtung des Zeitgeistes und in der Macht der Gebildeten, welche ihm huldigen; seine Schwäche liegt aber darin, daß er den christlichen Glauben, in seiner Wahrheit und Nothwendigkeit nicht versteht.13 Diejenigen aber, welche ihn haben und darnach leben, sind unüberwindlich; sie stellen das ewige Leben höher, als das zeitliche und sprechen, wenn es zur Entscheidung kommt, mit Luther: „Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib; laß fahren dahin; sie habens keinen Gewinn, das Reich muß uns doch bleiben.“14

Seitdem ich Anfang September hierher zurückgekehrt bin, habe ich so viel, wie lange nicht, arbeiten müssen und bin daher dankbar, daß ich es in der Hauptsache habe bewältigen können. Die Uebertragung der äußeren Kirchenverwaltung von den Regierungen auf das Konsistorium, die Personalveränderungen in meinem Konsistorium und vieles Andere, auch bei der Bibelgesellschaft und im Evangelischen Verein machten ungewöhnliche Ansprüche. Gott sei Dank, bin ich gesund geblieben und auch meine Lieben im Hause befinden sich im Ganzen wohl. Meine Marie in Waldenburg hatte einige Sorgen wegen ihrer kleinen Anna, welche ein schwächliches Kind ist; sie schickte daher ihren Konrad, der den Keuchhusten bekam, hierher zu den Eltern Bitter, wo er noch jetzt sich aufhält, übrigens bei seinem Husten sehr fidel ist; es ist ein kluger aufgeweckter lustiger Junge.

Ueber die Ernennung von Georg zum Fähnrich nach bestandenem Examen haben wir uns mit Euch von ganzem Herzen gefreut; möge dadurch nun auch sein Ehrgefühl gestärkt und der sittliche Bestand seines Charakters befestigt werden.

Die herzlichsten Grüße von Klara und den Kindern, und ihre innigsten Wünsche für die liebe Susanna. Klara dankt auch sehr Deiner Marie für ihren lieben Brief und wird ihn nächstens beantworten.

In treuer Liebe Dein Bruder
Immanuel.