PDF

Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 5. Juni 1878

Lieber Karl!

Du wirst Deinen Geburtstag1 vermuthlich in Würzburg oder auch schon in Heidelberg feiern; doch lasse ich meine guten Wünsche in Dein heimathliches Haus gelangen, damit sie sich den Grüßen, die von dort aus an Dich abgesandt werden, anschließen können. Es wird vielleicht Deiner Stimmung entsprechen, diesmal den sonst festlichen Tag ganz in der Stille für Dich allein zu verleben; es wird Dich die Erinnerung an die vergangenen glüklichen Jahre tief bewegen, da Deine liebe Susanne die erste war, die Dich an diesem Tage im Hause begrüßte und umarmte, und Du ihr für ihre treue herzliche Liebe danken konntest. Dies wird auch jetzt in verklärter Weise gewiß geschehen; denn wenn auch Alles sonst in diesem Leben vergeht; die Liebe hört doch nimmer auf2, sondern bleibt in Ewigkeit. Gott, der Herr, möge Dich aber trösten und stärken durch die Macht der Liebe, und Deine ferneren Lebensjahre durch ihr freundliches, erwärmendes und segensreiches Licht erleuchten und verklären!

Wir befinden uns jetzt in tiefer Bewegung, welche uns durch die schwere Katastrophe des Attentats auf den Kaiser3 ergriffen hat und da wir unzweifelhaft dadurch zu einem Wendepunkt in unserer vaterländischen Geschichte gekommen sind, so beschäftigen uns die sich aufdrängenden ernsten Fragen der Zukunft. Ob der Kaiser wieder aufkommen und noch regierungsfähig sein werde, erscheint sehr fraglich; vermuthlich wird alsbald eine Regentschaft eingesetzt werden. Die Ueberzeugung, daß wir in eine verderbliche Auflösung der Gesittung des Volkes und der Ordnungen des Staats und der bürgerlichen Gesellschaft gerathen sind, erfüllt die meisten Gemüther, und wenn auch die schlimmsten Ausbrüche des Sozialismus mit Polizei und Strafgesetz unterdrückt werden können, so ist doch damit nicht der negative Geist überwunden, der überall mit der Feindschaft gegen Zucht und Ordnung, Religion und Kirche nur auf die formale persönliche Freiheit gerichtet ist und weder die allgemeine Bildung des Volkes, so wie unsere neuere Gesetzgebung durchdrungen hat. Es wird eine lange und schwere Arbeit kosten, dieses Geistes in Wahrheit Herr zu werden; der Erfolg wird aber gewiß das Geschick unseres Volkes bestimmen. „Wohl dem Volk, deßen der Herr sein Gott ist; das Volk, das er zum Erbe erwählet hat“4. – Wenn es befremdlich ist, daß die Mord-Attentate fortgesetzt auf den ehrwürdigen Kaiser Wilhelm, dessen Leben jedenfalls nicht mehr lange dauern wird, gerichtet sind, so erscheint die Ansicht wohl glaublich, daß die sogenannten Anarchisten, die äußerste Linke der Sozialisten, den alten Kaiser mit vollem Recht gegenwärtig als den Erhalter und Bürgen des Friedens betrachten, da sein Ansehen und sein Einfluß in Rußland und England vornehmlich den Ausbruch des Krieges verhindert und den Kongreß5 zu Stande gebracht hat. Jene Anarchisten meinen aber, daß mit dem Ausbruch eines großen europäischen Krieges auch die rechte Zeit für ihre Arbeit gekommen sei, und verschiedene Anzeichen deuten darauf hin, daß die Attentate in internationalen Verbindungen ihren Ursprung haben. Es ist auch nicht schwer, Mörder in einer Klasse von Menschen zu finden, welche jeden Glauben an Gott und ewiges Leben und an Gottes Gericht nach dem Tode der Menschen, je nachdem sie Gutes oder Böses gethan, verloren haben. Wer von ihnen sich im Wohlleben befindet, wird nicht morden; wer aber in Elend gerathen ist, entschließt sich leicht zum Selbstmord, so wie zum Morde Anderer.

Doch wollen wir im festen Glauben, daß Gott im Regiment sitzt, den weiteren Verlauf getrost und mit Geduld abwarten, und ein Jeder an seiner Stelle, unsere Pflicht nach bestem Vermögen erfüllen und unßere Wege, wie der Herr will, in Frieden fortsetzen. Unsere Provinzial-Synode, welche 14 Tage versammelt war, wurde am vergangenen Freitag6 geschlossen; sie ist sehr befriedigend und würdig, und über Erwarten friedlich verlaufen. Dies hatte seinen Grund darin, daß die liberalen Linken nur eine schwache Minorität ausmachten und es daher ganz klug und rathsam fanden, ihre negativen Tendenzen im Wesentlichen zurückzuhalten und sich mit Eifer an den praktischen Arbeiten zu betheiligen; wie es überall eine glückliche Lage ist, wenn der Liberalismus sich in der Minorität befindet. Auf der anderen Seite war in der von den Konfeßionellen und den Positiv-Unirten gebildeten Majorität durch die Personalveränderung im Evangelischen Ober-Kirchen Rath eine große Beruhigung eingetreten, und diese wurde noch durch die überraschende Thatsache wesentlich verstärkt, daß ich zum Königlichen Kommissar ernannt war. Demnach wurde von ihr der ganze angesammelte Haufen von Klagen und Beschwerden der Vergangenheit ruhig bei Seite gelegt.

Die beiden Pfingstfesttage7 wollen wir wieder in Pessin bei Knoblauchs zubringen. Einige Tage darauf wird Clara mit Clärchen nach Lautensee gehen zum Besuch bei Pauline auf 3 Wochen, darauf bei Bruder Adalbert in Marienwerder auf 8 Tage. Anfang August denke ich für einige Wochen auf Urlaub wieder nach Görbersdorf und Johannisbad zu ziehen: dies unsere Pläne für die nächste Zukunft.

Nun aber bringe ich Dir noch unsere herzlichen Glückwünsche zu der Geburt Deines neuen Lommelschen Enkels und bitte Dich auch den lieben Lommels unsere große Freude und Theilnahme auszusprechen. Möge Gott Mutter und Kind gnädig behüten!

Mit herzlichen Grüßen und vielen guten Wünschen von Frau und Kindern
Dein Bruder Immanuel

P. S. Für die beiden recht gelungenen Photographien von Marie und Sophie, die uns sehr erfreut haben, danken wir herzlich. – Die gewünschten Stahlfedern werde ich Dir nächstens besorgen.