Johannisbad, am Sedanstage
den 2ten September 1878
Lieber Karl!
Deinen lieben Brief aus Marienbad habe ich richtig erhalten, da ich programmgemäß heute vor 14 Tagen von Görbersdorf nach Johannisbad übersiedelt bin. Wir haben die beiden Wochen mit den Kindern sehr angenehm erlebt; das Wetter war freilich zum Theil kalt und regnicht und es blieben vorübergehende Erkältungen nicht aus. Doch hat uns dies in der Behaglichkeit des Lebens und dem Genuß der schönen Natur nicht gestört. Hier in Johannisbad sind wir gern in gewohnte Umgebung und Verhältnisse eingetreten, und die herrliche stärkende Luft, das erfrischende und belebende Bad und die große und reiche Anmuth der Lage und Umgebung, alles dies gewährt uns immer von Neuem große Befriedigung. Wir wurden von einem zahlreichen Kreis von befreundeten Familien erwartet und herzlich begrüßt. Den Mittelpunkt bildete, wie auch schon in früheren Jahren der lutherische Pastor Dr. Besser aus Waldenburg, ein Mann voll Geist und Leben, der sich auch im Alter die jugendliche Frische bewahrt, und nach allen Seiten hin anzuziehn und anzuregen versteht. Er ist in den christlichen Kreisen durch seine Bibelstunden bekannt und hochgeachtet, und auch den Erlanger Theologen, namentlich Zeschwitz befreundet. Außer ihm gehört zu unserem | Kreise Konsistorialrath Hahn und Prof. theol. Brieger aus Marburg und ein Kranz mehr oder minder liebenswürdiger Damen. Da trifft man sich aller Wege und erfreuen wir uns einer angenehmen Geselligkeit. Von großen Parthien ist dabei weniger die Rede; das Alter scheut angreifende Anstrengungen und ist zufrieden in genügsamer Bequemlichkeit. Das Wetter ist sehr wechselvoll, aber doch nicht hinderlich; die frische Herbstluft nöthigt mehr zum Wandern, als sie zum längeren Sitzen im Freien einladet. Es war eine große Ueberraschung, daß Marie und Rudel uns vor acht Tagen hier besuchten; sie waren mit eigener Equipage von Görbersdorf direkt hierher gefahren und blieben den Dienstag hier bei uns. Zu ihren Ehren wurde ein außerordentliches Festmahl bereitet. Heute werden sie ihren Sommersitz in Görbersdorf verlassen, und da wir ihre neue Wohnung im Ständehaus zu Waldenburg noch nicht kennen, so wollen wir ihnen auf der Rükreise noch einen Besuch machen und erst am nächsten Dienstag dem 10ten dieses Monats von dort nach Hause fahren. Inzwischen wird vermuthlich mein Schwager Adalbert, als Abgeordneter des Reichstags bereits bei uns eingekehrt sein. Im Augenblick erfreut er sich des hohen Besuchs des Kronprinzen und Prinzen Friedrich Karl bei den großen Kavallerie-Manövers in der Umgegend von Marienwerder und hat die schwierige Aufgabe, ihnen daselbst die nöthigen Feste zu bereiten. Seine kleine, noch immer sehr anmuthige Frau wird trotz ihrer schwächlichen Gesundheit dabei gewiß mit gutem Erfolg repräsentiren. Die | heiteren Feste werden durch den Ernst der Zeit für jetzt noch nicht gestört, und wenn es auch wohl zu viel gesagt wäre, daß man auf einem Vulkan herumtanze, so scheinen doch so viel Gewitter im Anzug zu sein, daß ein Jeder Ursache hat, seinen Platz zu schützen. Der Reichstag in Berlin wird sicherlich etwas Entladung mit Wetterleuchten und brummendem Donner herbeiführen; eine gründliche Entscheidung dürfte aber kaum zu erwarten sein. Ich könnte nur jedem Abgeordneten rathen, der Regierung alle Vollmachten zu gewähren, welche sie glaubt, im Kampf gegen die Sozialdemokraten nöthig zu haben. Sie hat die ebenso schwere, als gehässige Arbeit und die Verantwortlichkeit des Erfolgs. Wohin dieser führt und ob er genügen wird, wer kann es wissen! Wer es mit dem Vaterland wohl meint, wird sich scheuen, sich für die Folgen verantwortlich zu machen, wenn der Kampf durch Versagung der von der Regierung geforderten Mittel unglüklich ausfällt. Der Kriegsschaden trifft dann schwer das Land, während im Falle des Sieges einige unnütze Opfer, die vielleicht hätten erspart werden können, nicht in Betracht kommen. – Auch auf den weiteren Verlauf der Verhandlungen mit Rom muß man sehr gespannt sein; ich bin darin nicht sanguinisch, weil bei voller Geneigtheit zum Frieden auf beiden Seiten doch der Gegensatz zu groß und tief ist, um in der evangelischen Bevölkerung und in der vorherrschenden liberalen Masse das Verständniß der kirchlichen Fragen und namentlich der katholischen Kirche in ihrem Wesen und Bestand zu gering ist, um auf eine Majorität des Landtags in der nothwendigen | Reform der Maigesetze rechnen zu können. Schlesische katholische Geistliche, mit denen ich hier gesprochen habe, erwarten, daß der Fürstbischof von Breßlau schon zum 1sten October zurükkehren werde, der Bischof soll es selbst angekündigt haben. Im Falle der Begnadigung kann er freilich zurükkommen und den Bischofssitz wieder einnehmen, aber die Maigesetze wird er aber schwerlich anerkennen. Für die evangelische Landeskirche würde die Beendigung des Kulturkampfes gleichfalls von großer Bedeutung sein; sie ist auch dadurch schwer geschädigt worden und wird sich nicht leicht davon erholen. Ich bezweifle auch, daß der Staat ihr die Pflege und Hülfe zuwenden wird, welcher sie bedarf. Wer sich im Laufe der Welt nicht als eine selbständige und widerstandsfähige Macht erweist, wird nicht geachtet und muß sich mit dem genügen lassen, was man ohne Unbequemlichkeit zu geben, für gut findet.
Meine Frau und Clärchen senden Dir und den Deinen die herzlichsten Grüße. Deine Kinder werden nun wohl auch wieder heimgekehrt sein und sich um Dich versammelt haben. Möge es Dir und ihnen Allen wohlergehen.
In herzlicher Liebe
Dein Bruder
Immanuel
Hegel, Immanuel (Manuel, Emanuel)Immanuel HegelJurist/Konsistorialpräsident der Provinz Brandenburg11657072518141891 Hegel, Immanuel (Manuel, Emanuel) (1814–1891), Bruder Karl Hegels, studierte von 1832 bis 1834 und von 1835 bis 1836 Jura an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, von 1834 bis 1835 an der Ludwigs-Maximilians-Universität in München, trat 1836 in den preußischen Staatsdienst ein und war als Verwaltungsjurist in verschiedenen Verwendungen des Königreichs Preußen, vor allem im Staatsministerium, tätig, wurde 1865 Präsident des Konsistoriums der Provinz Brandenburg, heiratete 1845 Friederike Flottwell (1822–1861) und 1865 Clara Flottwell (1825–1912), beide Töchter des oftmaligen preußischen Oberpräsidenten und Staatsmanns Eduard Heinrich Flottwell (1786–1865), war u. a. Vater des preußischen Verwaltungsbeamten und Politikers Wilhelm (Willi) Hegel (1849–1925), war 1856 Taufpate seines Neffen Georg Hegel (1856–1933).
Hegel, KarlKarl Hegel
HiKo
11657075X
Johannisbad50.6305685,15.7806938Etwa 150 Kilometer südwestlich von Breslau auf circa 520 Meter Höhe im böhmischen Riesengebirge gelegen.
Privatbesitz
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Privatbesitz
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Besser, Wilhelm Friedrich11615484518161884Besser, Wilhelm Friedrich (1816–1884), aus der Nähe Quedlinburgs stammender lutherischer Theologe, der nach seinem Studium an den Universitäten Halle und Berlin zunächst Hauslehrer und Prädikant war, bevor er Pfarrer u. a. in Pommern und Leipzig wurde. Im Jahre 1864 wurde er Mitglied des evangelisch-lutherischen Oberkirchenkollegiums in Breslau.
Zezschwitz, Karl Adolf GerhardKarl Adolf Gerhard Zezschwitz11877267818251886 Zezschwitz, Karl Adolf Gerhard (1825–1886), in Bautzen geborener evangelisch-lutherischer Theologe, der nach seinem Studium an der Universität Leipzig Pfarrer wurde. Er habilitierte sich 1857 in Leipzig, wurde dort außerordentlicher Professor, wechselte 1861 nach Neuendettelsau und diente innerhalb der Inneren Mission. Im Jahre 1865 wurde er ordentlicher Professor an der Universität Gießen, 1866 an der Universität Erlangen, dort dazu ab 1867 Universitätsprediger. In zweiter Ehe war er ab 1856 mit der Nürnbergerin Julie Zezschwitz, geb. Meier (1832–1906), verheiratet.
Hahn, Heinrich Gottfried Eduard103474830018241901Hahn, Heinrich Gottfried Eduard (1824–1901), in Hildesheim geborener evangelisch-lutherischer Theologe, der nach seinem Studium der Theologie und Philosophie an den Universitäten Göttingen und Halle in den Schul- und dann den Pfarrdienst ging. Nach mehrmaligen Bestellungen zum Superintendenten wurde er Generalsuperintendent in Hildesheim und Mitglied des Konsistoriums in Hannover, zuletzt Oberkonsistorialrat.
Brieger, Johann Friedrich Theodor11650811618421915 Brieger, Johann Friedrich Theodor (1842–1915), in Greifswald geborener evangelischer Theologe, der nach seinem Studium der Theologie und Geschichte an den Universitäten Greifswald, Erlangen und Tübingen sowie nach seiner Promotion zum Dr. phil. an der Universität Leipzig im Jahre 1870 zunächst im Lehramt und dann als Pfarrer tätig war. Nach seiner Habilitation an der Universität Halle erfolgte dort 1873 die Ernennung zum außerordentlichen Professor. 1876 nahm er einen Ruf als Ordinarius an die Universität Marburg an, 1886 an die Universität Leipzig, wo er 1892/93 auch Rektor war.
Bitter, Rudolf11619799418461914Bitter, Rudolf, der Jüngere (1846–1914), in Merseburg geborener preußischer Verwaltungsjurist und Politiker, Sohn (Hans) Rudolf Bitters, des Älteren (1811–1880), und Anna Bitters, geb. Nauen, 1819–1885) sowie Ehemann Marie Bitters, geb. Hegel (1848–1925). Nach seinem Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an den Universitäten Berlin, Bonn und Lausanne ging er im Jahre 1873 in den preußischen Verwaltungsdienst in Posen, wurde 1875 Landrat im schlesischen Kreis Waldenburg, wechselte von 1882 bis 1888 und in den Jahren 1898/99 (als Ministerialdirektor) ins preußische Innenministerium, wurde 1888 Regierungspräsident in Oppeln, 1899 Oberpräsident der Provinz Posen. Von 1879 bis 1888 war er als Mitglied der Freikonservativen Fraktion Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses.
Flottwell, Adalbert JuliusAdalbert Julius Flottwell11663105818291909Flottwell, Adalbert Julius (1829–1909), in Marienwerder geborener Sohn Eduard Heinrich Flottwells (1786–1865) und seiner zweiten Ehefrau Auguste Flottwell, geb. Lüdecke (1794–1862), der nach seinem 1849 begonnenen Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Berlin preußischer Beamter und Politiker wurde. Verheiratet mit Ella (Else) Flottwell, geb. Oppen-Gatersleben (1841–1916), war er von 1861 bis 1868 Landrat von Meseritz in der Provinz Posen, gleichzeitig von 1866 bis 1868 Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses, dann von 1868 bis 1872 Landesdirektor im Fürstentum Waldeck-Pyrmont, von 1872 bis 1875 Kabinettsminister im Fürstentum Lippe, von 1875 bis 1880 Regierungspräsident in Marienwerder, dazu von 1878 bis 1881 Mitglied des Deutschen Reichstages, sowie ab 1880 Präsident des seit 1871 bestehenden preußischen Bezirks Lothringen in Metz. Bis 1902 war er schließlich Direktor der Schlesischen Bodenkreditbank.
Friedrich Wilhelm von Preußen11853566818311888Friedrich Wilhelm von Preußen (1831–1888), Kronprinz, siehe auch: Friedrich III.
Friedrich Karl Nikolaus von Preußen11855284818281885Friedrich Karl Nikolaus (1828–1885), Prinz von Preußen und Generalfeldmarschall, Neffe Kaiser Wilhelms I. (1797–1888).
Förster, Heinrich Ernst Karl11881097917991881 Förster, Heinrich Ernst Karl (1799–1881), im niederschlesischen Glogau geborener römisch-katholischer Priester, der von 1821 bis 1824 an der Universität Breslau katholische Theologie studierte und 1825 zum Priester geweiht wurde. 1853 zum Bischof von Breslau gewählt und vom Papst bestätigt, nahm er von 1869 bis 1871 am Ersten Vatikanischen Konzil teil und gehörte zu den Gegnern des Unfehlbarkeitsdogmas. In den 1870er Jahren leistete er entschiedenen Widerstand im „Kulturkampf“ gegen die gegen die römisch-katholische Kirche gerichteten kirchenpolitischen Gesetze.
Hegel, Clara (Klara), geb. Flottwell
Clara Hegel, geb. Flottwell116570776?18251912Hegel, Clara (Klara), geb. Flottwell (1825–1912), Tochter Eduard Heinrich Flottwells (1786–1865) und Auguste Flottwells, geb. Lüdecke (1794–1862), jüngere Schwester Friederike Hegels, geb. Flottwell (1822–1861), der ersten Ehefrau Immanuel Hegels (1814–1891) und dessen zweite Ehefrau ab 8. September 1865.
Marienbad49.9739518,12.703319Etwa 270 Kilometer nördlich von München gelegener Kurort im westböhmischen Bäderdreieck von Karlsbad, Franzensbad und Marienbad.
Görbersdorf50.6852363,16.2333222Etwa 15 Kilometer südlich von Waldenburg am Rande des Riesengebirges gelegener heilklimatischer Kur- und Badeort.
Waldenburg50.7659054,16.2825424Etwa 75 Kilometer südwestlich von Breslau am Rande des Riesengebirges gelegene, sich rasche entwickelnde Handels- und Industriestadt im Landkreis Waldenburg.
Erlangen49.5928616,11.0056Mittelfränkische Universitätsstadt, etwa 20 Kilometer nördlich von Nürnberg gelegen, seit 1810 Stadt und Universität des Königreichs Bayern.
Marburg50.8090106,8.7704695Etwa 90 Kilometer nördlich von Frankfurt am Main gelegene Universitätsstadt und ehemalige Residenzstadt an der Lahn. Die 1527 von Landgraf Philipp I., dem Großmütigen (1504-1567), gegründete Universität war die erste evangelisch-lutherische Hochschule ihrer Art.
Marienwerder52.8416198,13.59903Etwa 45 Kilometer nördlich von Berlin gelegene Gemeinde.
Berlin52.5170365,13.3888599Hauptstadt des Königreichs Preußen und ab 1871 auch des Deutschen Reiches.
Rom (Roma)41.8933203,12.4829321 Nahe der Westküste der Apeninnen-Halbinsel in Mittelitalien gelegene Hauptstadt des antiken Römischen Reiches, die 1871 Hauptstadt des neuen Königreiches Italien wurde. Der Vatikan als Stadtteil Roms war zugleich Sitz des Papstes als Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche.
SchlesienSeit Beginn des 19. Jahrhunderts Provinz des Königreichs Preußen mit Breslau als Provinzhauptstadt.
Breslau51.1089776,17.0326689Etwa 380 Kilometer südöstlich von Berlin gelegene Hauptstadt der preußischen Provinz Schlesien am Oberlauf der Oder, die als Herzogtum Schlesien im Jahre 1742 vom Erzherzogtum Österreich an das Königreich Preußen überging.
EquipagePferdegespann mit Kutsche und Kutscher.
LandtagRegionalversammlung eines Herzogs, eines Landesfürsten; Tagung der Landstände; im 19. Jahrhundert nach allgemeinem Sprachgebrauch auch parlamentarische Volksvertretung oder beide Kammern eines Landes; seit 1847/48 vgl. auch den aus den Provinzialständen Preußens gebildeten Vereinigten Landtag.
MaigesetzeIm „Kulturkampf“ jeweils im Mai 1873, 1874 und 1875 im Königreich Preußen und im Deutschen Kaiserreich erlassene kirchenpolitische Gesetze betr. Bildung und Anstellung von Geistlichen sowie kirchliche Disziplinargewalt, betr. Ausübung von Kirchenämtern und Aufenthaltsgenehmigungen sowie betr. Verbot von Orden oder ordensähnlichen Kongregationen.
„Kulturkampf“Begriff für die Auseinandersetzungen von 1871 bis circa 1878 zwischen Reichskanzler Otto Bismarck (1815-1898) und der katholischen Kirche um deren (politischen) Einfluß auf den Staat des Deutschen Reiches.