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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 12. Oktober 1878

Lieber Karl!

Zunächst habe ich Dir für die Mittheilung1 Deiner neuesten Schrift über die älteren Dante-Kommentare2 meinen herzlichen Dank auszusprechen. Es ist dies wieder ein Zeugniß Deines gründlichen Fleißes und Deines scharfsinnigen Urtheils; ich habe davon mit großem Interesse Kenntniß genommen, da es auch dem Laien in einen sehr wichtigen und grundlegenden Theil der Dante-Literatur einen lehrreichen Einblick gestattet. Ebenso mußte es mich erfreuen, daß Du auf diesem Wege neues erhebliches Material zur Vertheidigung Deiner Ansicht in dem brennenden und von weiten Kreisen mit Aufmerksamkeit verfolgten Streit über Dino Compagni gewonnen hast. Dein Standpunkt und Auftreten in dieser merkwürdigen Streitsache konnte von vorne herein nur meine herzliche Theilnahme erwecken, da Du Dich verpflichtet fandest, eine anmaaßliche und Dich überstürzende Kritik gegen ein bis dahin mit Recht sachgeachtetes Werk in ihre Schranken zurükzuweisen. Es ist diese Kritik auch nur eine Erscheinung des modernen Liberalismus, der, stark in der Auffindung vorhandener Mängel, anstatt sich auf ihre Besserung zu beschränken, gleich zur Verwerfung, Abschaffung und Vernichtung des bestehenden Ganzen fortschreitet. Er bereitet darauf ein Feld von Trümmern, unter denen kein Mensch mehr zu leben Lust hat.

Du hast auch meines Geburtstages3 in brüderlicher Liebe gedacht, und ich danke Dir herzlich für Deine freundlichen Wünsche. Man kann in unserem Alter recht dankbar sein, wenn sich ein Lebensjahr in gutem Frieden und ohne wesentliche Störung verlaufen und vollendet hat, und ich muß für viel Gutes, das ich empfangen und erfahren habe, Gottes Gnade loben und preisen. Auch die Zeit der Erholung, die ich in Görbersdorf und Johannisbad zubringen durfte, hat mir zur Stärkung gedient, und wenn auch manche kleine Unbillen, wie Katarrh, Magenbeschwerden und dergleichen mir den alten Körper behelligen, so hat er doch in leidlichem Gang bis jetzt erhalten werden können. Auf dem Rükweg4 besuchten wir die Kinder in Waldenburg, um hier noch ihre Dienstwohnung in dem vom Kreise neu erbauten stattlichen Ständehaus kennen zu lernen und zu Rudels Genugthuung gebührend zu bewundern. Man muß auch anerkennen, daß er in rühriger Thätigkeit viel zu Stande zu bringen weiß. Nach diesem letzten Ruhepunkt ging es nun nach Berlin zurük, wo wir uns herzlich freuten, den guten Willi wohlgemuth wiederzufinden. Er hat treu und fleißig Haus gehalten und wird hoffentlich bald – er schweigt über den Termin der Schlußprüfung – von der Examenslast befreit werden. – Hier fand sich nun für mich viel Arbeit nach vielen Richtungen hin und hat es lange gedauert bis ein gemächlicheres Tempo wieder eingehalten werden konnte. In unserem Hause war auch bereits Schwager Adalbert, als Reichsbote und unser Gast eingekehrt. Die Verhandlungen des Reichstags werden wohl die nächste Woche hindurch dauern, und die Regierung dürfte mit dem Ausgang im Wesentlichen zufrieden sein können, da sie auch die Unterstützung eines erheblichen Theils der Nationalliberalen gewonnen zu haben scheint. Doch ist dies erst das Ende des Anfangs und die Einleitung zu einem wüthenden Verzweiflungskampf. Das ist ja unvermeidlich und muß wie alle Kämpfe mit den Geistern der Revolution als ein allgemeines Uebel der Neuzeit ertragen werden; wenn nur nicht gleichzeitig damit der unglükselige Kulturkampf, durch welchen die christliche Kirche überhaupt und das Christenthum im Volke untergraben wird, verknüpft wäre, und es ist nicht abzusehen, wie dieser Kampf zum Frieden gelöst werden soll.

Du hast auch mancherlei Wanderungen in Deinen Ferien unternommen und ich wünsche herzlich, daß sie Dir zur Stärkung mögen gedient haben. Von Deiner Anwesenheit in Nürnberg in Veranlassung des germanischen Museums5 und in München bei der historischen Kommission haben die Zeitungen berichtet.6 In Alexandersbad, das ich in früherer Zeit auch kennen gelernt habe, mag es Dir wohl etwas einsam gewesen sein, und zu einer anstrengenden Wasserkur bist Du auch nicht disponirt. Ein Aufenthalt in den Alpen möchte Dir zuträglicher sein, und ist für Euch doch leicht zu erreichen. – Das fatale Leiden des guten Mundel bedaure ich von ganzem Herzen und ich kann mir vorstellen, wie sehr Dich dieses Uebel in seiner Hartnäkigkeit mit Sorge erfüllt und Du darauf Bedacht nimmst, daß es gründlich beseitigt werde; es könnte sonst leicht für den armen Jungen ein Mißgeschick des Lebens werden.7 Da Du in München die Tante Thekla gesprochen hast, so möchte ich wissen, was Du durch sie von der armen Anna Mangelsdorf in Leipzig erfahren hast. Während der Mann unheilbar der Gehirnvernichtung verfallen ist, soll sie an einem Rükenmarksleiden, das sie sich durch die Pflege zugezogen hat, darniederliegen.

Vater Steinmeyer, den ich kürzlich besuchte, um ihn zu einem wissenschaftlichen Vortrag im Evangelischen Verein zu bereden – aber wieder vergeblich, da er völlig überzeugt ist, bis zu Neujahr entweder zu sterben oder doch ganz zu erblinden, inzwischen aber in jedem Jahr ein neues gelehrtes Werk fertig macht – hat sehr bedauert, Dich in Erlangen, als er im Herbst seinen Sohn besuchte, nicht anzutreffen und wünschte Dir angelegentlich empfohlen zu werden.

Clara und die Kinder grüßen herzlich. Mit treuen Wünschen Dein Bruder Immanuel