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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 20. Oktober 1878

Lieber Karl!

Die Niethammerschen Briefe habe ich mit Dank empfangen, und da ich jetzt keine Zeit habe, sie zu lesen, so hat Klara sie an sich genommen, welche eine große Passion hat, alte Briefe zu lesen. Deine Briefe an mich aus den Jahren 1841 bis 1850 habe ich herausgesucht, und übersende sie Dir hiermit nach den Jahrgängen gesondert. Seiner Zeit wirst Du sie mir wieder zustellen. Deine Briefe an die Mutter, insoweit sie nicht sich bei mir befunden haben, muß Clara erst noch aus dem schriftlichen Nachlaß der Mutter heraussuchen und wird sie Dir, so viel sich darin vorfindet, übersenden. Von Friederikens Korrespondenz habe ich den größten Theil verbrannt, und nur wenige ältere Jahrgänge aufbewahrt, unter denen sich Briefe von Susanne nicht befinden.

Willi hat Dir bereits mitgetheilt, daß er gestern das Schlußexamen – das mündliche – glüklich bestanden und sogar das seltene Prädikat „gut“ erhalten hat. Der gute Junge ist voller Freude und wir theilen sie mit ihm, von herzlichem Dank erfüllt. Da er mit redlichem Fleiß in allen diesen Vorbereitungsjahren gearbeitet hatte, so war mir selbst nicht bange; denn mehr kann man doch von einem Menschen nicht verlangen. Es ist aber doch eine lange Quälerei und man ist froh, wenn dies Vorbereitungsstadium überstanden ist. Er ist nun doch auch inzwischen 28 Jahr alt geworden und muß endlich zu einer selbstständigen Thätigkeit gelangen. Leider ist damit der Zeitpunkt gekommen, mit welchem er aus meinem Hause ausscheidet, und es entsteht eine Lüke, welche wir sehr empfinden werden; denn er war ein treuer gemüthlicher Haussohn und ich hatte die besondere Befriedigung, daß er auch in den allgemeinen Lebensfragen in Staat und Kirche mit mir vollkommen harmonirte; ich war dafür sehr dankbar, so wohl weil ich meinen Standpunkt darin, selbstverständlich für den richtigen halte, als weil ein Gegensatz darin, wie er häufig zwischen Vater und Sohn statt findet, leicht das Zusammenleben und das vertrauensvolle Verhältniß zerstören kann. Gott der Herr wolle nun ihn in seinem Beruf und seinem Lebensberuf gnädig leiten! Er ist nicht ehrgeizig, sondern neigt zu einer bequemen Gemüthlichkeit; er hat aber doch eine feste Begründung in sich gewonnen und es ist dies in der jetzigen Zeit und bei der bedenklichen Zukunft mit schweren Kämpfen und Wirren von großem Werth; er hat ein gutes, ehrliches, treues und gottesfürchtiges Herz, das ihn auch mit Gottes Hülfe den rechten Weg finden lassen wird. Ich muß gestehen, daß ich die Zukunft – nicht bloß der Sozialisten wegen – so ernst ansehe, daß ich froh bin, sie nicht mehr erleben zu dürfen. – Willi wird vermuthlich sehr bald ein Kommissarium1 an irgend einem Ort in der Monarchie erhalten und kann auch, wenn er nicht wählerisch ist, bald zur definitiven Anstellung als Kreisrichter gelangen. Es wird ihm dabei von Vortheil sein, daß er das Prädikat „gut“ in der Prüfung erhalten hat, und es macht mir auch Freude, daß er diesen Lohn seines Fleißes gewonnen hat.

Clara hat mir auch die Briefe Susannes an sie übergeben, so daß ich dieselben mitsenden kann.

Mit dem herzlichen Wunsch, daß auch der gute Mundel bald wieder frisch herumlaufen möchte, und mit vielen Grüßen von Clara und den Kindern an Dich und alle Deinigen

Dein Bruder
Immanuel