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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 26. November 1878

Lieber Karl!

Auf Deinen Wunsch sende ich Dir hiermit Deine Briefe aus den Jahren 1856 bis 1859; sie sind nach den einzelnen Jahren gesondert, weil ich am Schlusse jeden Jahres die von mir empfangenen und aufgehobenen Briefe zu einem Paket zusammenthue und aufbewahre. So sammelt sich freilig eine große Masse, mit welcher auch meine Kinder einst nicht viel anfangen werden. Wenn ich seiner Zeit dazu gelangen sollte, bei leidlichen Geisteskräften in den Ruhestand zu treten, würde es wohl eine erwünschte Beschäftigung sein, mit der Hülfe dieses Materials eine Rükschau über ein bewegtes und arbeitsvolles Leben zu halten. Doch hat mich bei der flüchtigen Durchsicht jener Jahrgänge der Eindruk wehmüthig überrascht, wie sehr mir jene Vergangenheit entschwunden ist, wie die Gegenwart nicht bloß äußerlich, sondern auch innerlich und persönlich eine ganz andere geworden und wie sie mit ihren Zuständen, Fragen und Aufgaben uns völlig beherrscht. Sie ist auch mächtig und gewaltig, daß es eine unausgesetzte Arbeit erfordert, um einen klaren und festen Standpunkt zu gewinnen und sich zu bewahren; es ist dies auch sehr nöthig, um nicht ein Spielball momentaner Eindrücke und Erregungen zu werden und um zu einem sicheren Handeln befähigt zu sein. Dabei bestätigt sich immer von Neuem, daß es schließlich einfache Gesetze sind, welche, wie in der Natur auch im Leben der Menschen ihre Wahrheit und Macht erweisen. Es ist aber in jetziger Zeit doch nicht ganz leicht, sich von dem Schein und der Lüge nicht blenden zu lassen, und in unseren heutigen Kämpfen die Gegner recht zu verstehen. Ein trefflicher Ausspruch unseres Vaters: daß die rechte Polemik den Gegner in seiner Stärke überwinden muß1, dient mir hierbei stets zur Mahnung und Richtschnur. Doch hat die Politik auch das Gesetz, daß sie mit gutem Gewissen fest und entschlossen handeln muß. Dies hat sich jetzt bei den Sozialisten bewährt; sie sind wenigstens für den Augenblik mundtodt gemacht. Ob aber die Stärken des Volks dadurch gründlich geheilt werden, das ist eine weitere Frage und es wird nicht geschehen, wenn das Volk tagtäglich von einer demokratischen, irreligiösen und unsittlichen Presse vergiftet wird. – An meinem geringen Theil befinde ich mich auch in einem ununterbrochenen Kampf mit dem Liberalismus in der Kirche; es ist dies einmal die Aufgabe meines Lebens geworden. Mit der Berliner Stadtsynode hat sich dazu ein neuer, sehr ergiebiger Schauplatz eröffnet. Die Synode hat die Bestimmung, der finanziellen Noth der Kirchen in Berlin abzuhelfen, da in Folge des Ausfalls an Stolgebühren – es werden an 25% der Kinder nicht mehr getauft und an 70% aller Ehen nicht mehr getraut – die Kirchenkasten nicht mehr die Gehälter der Geistlichen und Kirchenbeamten etc. bezahlen können; statt deßen wünscht die liberale Majorität allgemeine Kirchenpolitik zu treiben und will eine Kirchensteuer nur gegen liberale Konzessionen des Kirchenregiments bewilligen.

In den nächsten Tagen erwarten wir unseren alten Kaiser; wenn auch der obligate Volksjubel nicht fehlen wird, so scheint er doch mit schwerem Herzen heimzukehren und ob er im Stande sein werde, die Regierung wieder zu übernehmen, darüber schwebt ein bedenkliches Dunkel. Es ist dies ein schweres Verhängniß!

Mein Willi hat uns am Dienstag den 12ten dieses Monats verlaßen, um nach einem kurzen Aufenthalt bei Freunden in Hannover am 15ten seine neue Stellung in Paderborn anzutreten. Er ist dort dem königlichen Kommissarius für die bischöfliche Vermögensverwaltung, Regierungsrath Himly als Hülfsarbeiter mit einem jährlichen Gehalt von 3000 Mark zugeordnet. Sein gutes Prüfungszeugniß hat den Justizminister veranlaßt, auf Anfrage des Ministers Falk ihn zu dieser Stelle, welche vakant geworden, vorzuschlagen, und letzterer hat ihn darauf angestellt. Ich habe ihn auch nur ermuthigen können, die Stelle sofort anzunehmen, welche ihm interessant und lehrreich sein wird; auch ist es von Werth, die katholischen Zustände kennen zu lernen und die Provinz Westfalen öffnet ihm nach allen Seiten hin ein interessantes Gebiet. Ueber seinen Eintritt und Empfang schreibt er ganz befriedigt. In voriger Woche war er auch in Münster, um sich dem Oberpräsidenten vorzustellen und er schreibt entzückt von den Eindrücken dieser merkwürdigen Stadt. – Der Abschied Willis aus dem Elternhause war für uns beiderseits sehr bewegt. Wir waren voll Freude und Dank, daß Gott der Herr ihn dies Ziel hat glüklich erreichen lassen, und doch mußte es uns wehmüthig sein, daß er nun da er selbstständig seinen Lebensweg weiter verfolgt, damit aus unserem Haus geschieden ist; denn er war uns ein treuer, gemüthvoller Sohn – der Herr wolle ihn ferner segnen und gnädig bewahren!

Von Waldenburg haben wir augenblicklich keine guten Nachrichten. Rudolf leidet an einem Ohrgeschwür und hat sich deshalb zur ärztlichen Behandlung nach Breslau begeben müssen; leider ist es am guten Ohr, da er am andern ohnehin schlecht hört.

Clara und Clärchen senden Euch die herzlichsten Grüße; wir freuen uns über die guten Nachrichten aus Deinem Hause und von allen Deinen Kindern, insbesondere daß der gute Mundel wieder ganz munter in die Schule gehen kann.

In herzlicher Liebe Dein Immanuel