Berlin den 14ten Juni 1879
Lieber Karl!
Seit ich Dir das letztemal geschrieben habe, sind wieder schon an fünf Wochen in Sturmes Eile verflogen und doch waren sie ungewöhnlich reich an Erlebnissen der mannigfachen Art. In meinem Hause war viel Besuch und Verkehr. Marie war mit ihren beiden Kindern eine Woche bei uns; während Rudel zu seiner Stärkung eine Kur in Ischl gebraucht, besucht sie auf mehrere Wochen ein befreundetes Ehepaar, Regierungsrath a. D. von Wahl auf dem Lande bei Stolp in Hinterpommern; sie war recht wohl und frisch, und die kleinen Conrad und Annchen sehr artige, muntere liebenswürdige Kinder, die wir nun diesmal im Hause recht genießen konnten. Marie hat sich erfreulich entwickelt und ich muß es besonders anerkennen, wie verständig sie ihren unruhigen Mann zu behandeln weiß, so daß sie sehr glüklich zusammen leben und man sagen muß, daß die beiden in ihrer reichen Begabung für einander geschaffen sind. Es traf sich glüklich, daß auch Willy in derselben Woche auf der Durchreise nach |
Görlitz zur Hochzeit seines Freundes Dr. Schuchardt einige Tage bei uns verweilte. Er gefällt sich in Paderborn ausgezeichnet, muß aber doch über kurz oder lang mit dem Ende des Kulturkampfes auch das Ende seiner interessanten Thätigkeit daselbst erwarten. Demnächst machte Ella mit ihrer Tochter Ellis einen kurzen Besuch, da sie nun endlich nach Marienwerder zurückkehrte. Unser mehrmonatlicher Gast Schwager Adalbert wird jetzt nach dem Schluß des Reichstages morgen abreisen; er war uns ein liebenswürdiger Hausgenosse. Es tritt nun nach den aufregenden parlamentarischen Kämpfen eine große Stille in Berlin und im ganzen Lande ein, und mancher frägt sich, ob Alles wahr ist oder ob er geträumt hat, so merkwürdig und überraschend sind die erlebten Veränderungen. Sie sind in ihrer Art und im Innern ebenso tiefgreifend, wie die politische Umgestaltung des Staats in Folge der letzten Kriege. Das volkswirthschaftliche System und die Staatsfinanzen wesentlich reformirt; die Herrschaft des Liberalismus gebrochen und damit eine konservative Aera eröffnet – doch aber auf wie lange? Sobald die beiden Augen auf dem Thron sich schließen, wird eine andere Aera wieder anbrechen. Doch läßt sich, was geschehen, | nicht wieder rükgängig machen. Zu dem, was da gewesen, kann man niemals wieder einfach zurükkehren; der Prozeß der herrschenden Prinzipien muß doch seinen nothwendigen Fortgang behalten. Aber gewaltig und staunenswerth ist die Thatkraft des Bismark; ein Anderer hätte dies letzte Werk nicht zu Stande gebracht, wenigstens nicht in so kurzer Zeit und nicht so drastisch. Hoffentlich wird es ihm noch vergönnt sein und gelingen, auch den leidigen und verhängnisvollen Kulturkampf zu schließen, und wenigstens einen genügenden Waffenstillstand herzustellen; unter den Händen der Liberalen wäre die große Gefahr des Versumpfens, was uns in Zeiten großer Katastrophen sehr verderblich werden könnte. Die kirchlichen Fragen sind doch immer die schwierigsten und aufregendsten und werden am wenigsten verständig, ernst und unbefangen behandelt. In der evangelischen Kirche sind wir nun in der Erwartung der Generalsynode, welche in der zweiten Hälfte des Septembers berufen werden wird. Meine Familie wird darin außer mir durch meinen Schwiegersohn Bitter und meinen Schwager Adalbert vertreten sein. Die Synode wird jetzt nach dem Abgang von Falk ruhiger verlaufen als sonst zu erwarten war. Der neue Kultusminister von Puttkammer, kirchlich entschieden | positiv, wird sich der evangelischen Kirche, ihrer Selbständigkeit und ihren Bedürfnissen möglichst geneigt zeigen. Er hat von Falk eine schwierige Erbschaft übernommen. Inzwischen ist nun Onkel Herrmann Bitter Finanzminister geworden; er ist ein erfahrener Verwaltungsbeamter; ob er aber die Kenntnisse und den Geist zeigen werde, die man vom Finanzminister verlangt, ist mir zweifelhaft. Er wird sein Heil vornehmlich in der Willfährigkeit gegen Bismark suchen, eine Eigenschaft, die er von allen Ministern über das richtige Maaß hinaus fordert. Doch wer will die Zukunft ergründen? Jeder suche nur auf seiner Stelle mit gutem Gewissen vor Gott und vor Menschen durchzukommen.
Am nächsten Dienstag denke ich mit meiner Frau nach Ems zu wandern, wo ich eine gute Wirkung des Brunnens und Bades für meinen perpetuirlichen Katarrh erhoffe. In der letzten Woche des Augusts will ich nach Haus und ins Amt zurükkehren. Klärchen ist am vergangenen Sonnabend über Magdeburg und von hier mit Marie Trinkler nach Wernigerode gezogen; sie soll der guten Marie, die sehr an den Augen leidet, hier Gesellschaft leisten und es wird ihr hoffentlich auch der Aufenthalt zur Stärkung dienen.
Clara sendet mit mir allen Deinen Kindern herzliche Grüße. Dein Ausflug nach Mainz muß Dir viel Befriedigung gewährt haben. |
Was hast Du nun in Deinen Ferien für Reisepläne?
In herzlicher Liebe
Dein Bruder Immanuel
Hegel, Immanuel (Manuel, Emanuel)Immanuel HegelJurist/Konsistorialpräsident der Provinz Brandenburg11657072518141891 Hegel, Immanuel (Manuel, Emanuel) (1814–1891), Bruder Karl Hegels, studierte von 1832 bis 1834 und von 1835 bis 1836 Jura an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, von 1834 bis 1835 an der Ludwigs-Maximilians-Universität in München, trat 1836 in den preußischen Staatsdienst ein und war als Verwaltungsjurist in verschiedenen Verwendungen des Königreichs Preußen, vor allem im Staatsministerium, tätig, wurde 1865 Präsident des Konsistoriums der Provinz Brandenburg, heiratete 1845 Friederike Flottwell (1822–1861) und 1865 Clara Flottwell (1825–1912), beide Töchter des oftmaligen preußischen Oberpräsidenten und Staatsmanns Eduard Heinrich Flottwell (1786–1865), war u. a. Vater des preußischen Verwaltungsbeamten und Politikers Wilhelm (Willi) Hegel (1849–1925), war 1856 Taufpate seines Neffen Georg Hegel (1856–1933).
Hegel, KarlKarl Hegel
HiKo
11657075X
Berlin52.5170365,13.3888599Hauptstadt des Königreichs Preußen und ab 1871 auch des Deutschen Reiches.
Privatbesitz
.
Privatbesitz
1000
Neuhaus
, Helmut (Hg.): Karl Hegels Gedenkbuch. Lebenschronik eines Gelehrten des 19. Jahrhunderts, Köln, Weimar, Wien 2013.
Neuhaus
, Karl Hegels Gedenkbuch
2013
Bitter, Rudolf11619799418461914Bitter, Rudolf, der Jüngere (1846–1914), in Merseburg geborener preußischer Verwaltungsjurist und Politiker, Sohn (Hans) Rudolf Bitters, des Älteren (1811–1880), und Anna Bitters, geb. Nauen, 1819–1885) sowie Ehemann Marie Bitters, geb. Hegel (1848–1925). Nach seinem Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an den Universitäten Berlin, Bonn und Lausanne ging er im Jahre 1873 in den preußischen Verwaltungsdienst in Posen, wurde 1875 Landrat im schlesischen Kreis Waldenburg, wechselte von 1882 bis 1888 und in den Jahren 1898/99 (als Ministerialdirektor) ins preußische Innenministerium, wurde 1888 Regierungspräsident in Oppeln, 1899 Oberpräsident der Provinz Posen. Von 1879 bis 1888 war er als Mitglied der Freikonservativen Fraktion Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses.
Wahl, N. N.-Wahl, N. N., Regierungsrat a. D.
Hegel, Wilhelm (Willi)Wilhelm Hegel13593263718491925Hegel, Wilhelm (Willi) (1849–1925), in Berlin geborener Sohn Immanuel (1814–1891) und Friederike Hegels (1822–1861), Ehemann Armgard Hegels, geb. Wulffen (1862–1928), und Neffe Karl Hegels. Er war hoher preußischer Verwaltungsbeamter, u. a. von 1886 bis 1890 Landrat des Kreises Jerichow I, von 1895 bis 1905 Regierungspräsident von Gumbinnen, von 1905 bis 1908 in Allenstein, von 1908 bis 1917 Oberpräsident der Provinz Sachsen. Es war von 1887 bis 1890 Mitglied des Deutschen Reichstages und wurde im Jahre 1909 in den erblichen preußischen Adelsstand erhoben.
Schuchardt, N. N.-Schuchardt, N. N., Dr.
Flottwell, Adalbert JuliusAdalbert Julius Flottwell11663105818291909Flottwell, Adalbert Julius (1829–1909), in Marienwerder geborener Sohn Eduard Heinrich Flottwells (1786–1865) und seiner zweiten Ehefrau Auguste Flottwell, geb. Lüdecke (1794–1862), der nach seinem 1849 begonnenen Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Berlin preußischer Beamter und Politiker wurde. Verheiratet mit Ella (Else) Flottwell, geb. Oppen-Gatersleben (1841–1916), war er von 1861 bis 1868 Landrat von Meseritz in der Provinz Posen, gleichzeitig von 1866 bis 1868 Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses, dann von 1868 bis 1872 Landesdirektor im Fürstentum Waldeck-Pyrmont, von 1872 bis 1875 Kabinettsminister im Fürstentum Lippe, von 1875 bis 1880 Regierungspräsident in Marienwerder, dazu von 1878 bis 1881 Mitglied des Deutschen Reichstages, sowie ab 1880 Präsident des seit 1871 bestehenden preußischen Bezirks Lothringen in Metz. Bis 1902 war er schließlich Direktor der Schlesischen Bodenkreditbank.
Bismarck, Otto11851136X18151898Bismarck, Otto (1815–1898), in Schönhausen an der Elbe geborener preußischer und deutscher Politiker, der 1850 Mitglied des Erfurter Unionsparlaments war, von 1862 bis 1890 preußischer Ministerpräsident, zugleich von 1867 bis 1871 einziger Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes und von 1871 bis 1890 erster Reichskanzler des Deutschen Reiches.
Falk, Adalbert11868302018271900Falk, Adalbert (1827–1900), aus Schlesien stammender preußischer Jurist und Politiker, der nach seinem Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Breslau und Berlin im Jahre 1847 an der Hauptstadt-Universität promoviert wurde. Seine berufliche Laufbahn in der preußischen Justiz begleitete er durch sein politisches Engagement auf verschiedenen Ebenen. Von 1872 bis 1879 war er preußischer Kultusminister in der Nachfolge Heinrich Mühlers (1813–1874) und wurde zu einer Hauptperson des „Kulturkampfes“ an der Seite des preußischen Ministerpräsidenten und Reichskanzlers und unterstützte ihn im Kampf gegen den Einfluß der katholischen Kirche. Mit dem Schulaufsichtsgesetz vom 11. März 1872 beendete er zum Beispiel den Einfluß der Kirche auf die Schulen, und durch die sogenannten „Maigesetze“ aus den Jahren 1873 bis 1875 unterwarf er die Ausbildung der Theologen der Aufsicht des Staates. Nach seinem Ausscheiden als Minister blieb er Abgeordneter des Reichstages und wurde 1882 Präsident des Oberlandesgerichts im westfälischen Hamm.
Puttkamer, Robert Viktor11631433818281900Puttkamer, Robert Viktor (1828–1900), in Frankfurt an der Oder geborener preußischer Verwaltungsbeamter und konservativer Politiker, der nach dem Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Heidelberg, Genf und Berlin auf verschiedenen Ebenen der inneren Verwaltung tätig war. 1877 wurde er Oberpräsident der preußischen Provinz Schlesien, von 1879 bis 1881 war er in der Nachfolge Albert Falks (1827–1900) preußischer Kultusminister, dann bis zu seiner Entlassung durch König Friedrich III. (1831–1888) im Jahre 1888 preußischer Innenminister und Vizepräsident des Preußischen Staatsministeriums.
Bitter, Karl Hermann11851139418131885Bitter, Karl Hermann (1813–1885), in Schwedt an der Oder geborener jüngerer Bruder (Hans) Rudolf Bitters, des Älteren (1811–1880), der von 1830 bis 1833 an den Universitäten Berlin und Bonn Rechts- und Kameralwissenschaften studierte. Er brachte es in seiner preußischen Beamtenlaufbahn bis zum Unterstaatssekretär im preußischen Innenministerium und war von 1879 bis 1882 preußischer Finanzminister. Darüber hinaus war er ein vielseitiger Musik-Schriftsteller.
Hegel, Clara (Klara), geb. Flottwell
Clara Hegel, geb. Flottwell116570776?18251912Hegel, Clara (Klara), geb. Flottwell (1825–1912), Tochter Eduard Heinrich Flottwells (1786–1865) und Auguste Flottwells, geb. Lüdecke (1794–1862), jüngere Schwester Friederike Hegels, geb. Flottwell (1822–1861), der ersten Ehefrau Immanuel Hegels (1814–1891) und dessen zweite Ehefrau ab 8. September 1865.
Ischl47.7115299,13.6239333Etwa 260 Kilometer westlich von Wien und etwa 50 Kilometer südöstlich von Salzburg gelegenes österreichisches Kur- und Solebad an der Traun im Salzkammergut, seit Mitte des 19. Jahrhunderts Sommerresidenz des österreichischen Kaisers.
Stolp54.4649331,17.028073Etwa 250 Kilometer nordöstlich von Stettin und etwa 80 Kilometer nordöstlich von Köslin in Hinterpommern nahe der Ostsee gelegener Landkreis.
HinterpommernDer östlich der Oder gelegene größere Teil Pommerns, nahe an Danzig heranreichend.
Görlitz51.1563185,14.991018Etwa 200 Kilometer südöstlich von Berlin an der Neiße in der Oberlausitz gelegene Stadt.
Paderborn51.7177044,8.752653Alte Bischofsstadt an der Pader, seit Beginn des 19. Jahrhunderts zum Königreich Preußen gehörend, etwa 80 Kilometer nordwestlich von Kassel gelegen.
Marienwerder (Pommern)53.7335842,18.9319222Etwa 500 Kilometer nordöstlich von Berlin und südlich von Danzig gelegene Stadt in Pommern, die nach der ersten Teilung Polens im Jahre 1772 Sitz der Verwaltung des gleichnamigen Regierungsbezirkes wurde.
Ems50.3352062,7.7128538Bade- und Kurort an der Lahn, etwa 90 Kilometer nordwestlich von Frankfurt am Main gelegen, bis 1866 zum Herzogtum Nassau gehörend, dann zum Königreich Preußen.
Magdeburg52.1315889,11.6399609Hauptstadt der preußischen Provinz Sachsen an der Elbe und Sitz des Regierungspräsidiums Magdeburg, etwa 150 Kilometer westlich von Berlin gelegen.
Wernigerode51.8344172,10.7862526Etwa 15 Kilometer nordwestlich von Blankenburg und etwa 35 Kilometer südöstlich von Goslar gelegene Stadt am Nordrand des Harzes.
Mainz50.0012314,8.2762513Etwa 40 Kilometer westlich von Frankfurt am Main gelegene alte kurfürstliche Residenz-, Festungs- und Bischofsstadt am Rhein, die ab 1816 zum Großherzogtum Hessen gehörte.
„Kulturkampf“Begriff für die Auseinandersetzungen von 1871 bis circa 1878 zwischen Reichskanzler Otto Bismarck (1815-1898) und der katholischen Kirche um deren (politischen) Einfluß auf den Staat des Deutschen Reiches.
Reichstag (Deutsches Reich)In der Tradition des Reichstages des Norddeutschen Bundes von 1867 stehendes Parlament des Deutschen Reichs, das von 1871 bis 1918 bestand und zusammen mit dem Bundesrat die Reichsgesetzgebung ausübte. Verfassungsrechtlich ist er verankert in Kapitel V, Artikel 20-32, der Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871.
LiberalismusNeben dem Sozialismus und dem Konservativismus die dritte große politische Ideologie im 19. Jahrhundert, deren vielfältige Programme und Erscheinungsformen keine eindeutige Definition zulassen.
Generalsynode (Königreich Preußen)Die erste Generalsynode der Evangelischen Landeskirche im Königreich Preußen tagte nach vorbereitenden Kreis- und Provinzilsynoden in den Jahren 1843 und 1844 vom 2. Juni bis 29. August 1846 im Berliner Stadtschloß.