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Karl Hegel an Immanuel Hegel, Erlangen, 30. November 1879

Lieber Manuel!

Ich erwarte, daß Mariechen aus München an Clara das frohe Ereigniß von der Geburt meines jüngsten Enkelkindes, Annas Töchterlein, am 24. dieses Monats Nachmittags, mitgetheilt hat. Wie es weiter der Mutter und dem Kinde ergangen ist, soll ich selbst erst noch erfahren; es scheint daß Mariechen so viel zu thun hat, daß sie nicht zum Schreiben kommen kann. Sie war kaum einige Tage in München, als schon der Fall eintrat, für welchen sie zu Hülfe gerufen war. Ich selbst war Ende September bei der historischen Commission1 und nachher wieder zwei Woche im October bei den Prüfungen der Gymnasiallehrer2 in München, und habe dort auch viel Schönes und Interressantes gesehen und erlebt; vor allem die große internationale Kunstausstellung3 im Glaspalast, die ich oft besuchte; außer vielem von dem Besten, was die deutsche Kunst nach verschiedenen Richtungen und Fächern vermag, konnte man dort auch die französische, niederländische, italienische, englische Kunstform oder Stilart nach Werth oder Unwerth kennen lernen und vergleichen. Es war eine höchst interessante Zusammenstellung.

Außerdem sah ich, nicht noch einmal Makarts Bild, Karls V Einzug4, das besonders im Odeon ausgestellt war und ich schon in Berlin gesehen5, aber die prächtige historische Gruppe von Münchener Berühmtheiten um die Monarchie herum von Piloty im Rathhaussaal6 und den großen historischen Bildercyclus im Maximilianeum. Auch Schauspiel und Oper waren vortrefflich – ich sah unter anderem Fidelio. Der gesellige Verkehr mit vielen Menschen hat mich gleichfalls erfrischt. Anna war sehr wohl auf und in gewöhnlicher Frische trotz aller Sorge um ihren kleinen reizenden Otto, der so oft plötzliche Hustenanfälle bei Tag oder Nacht  bekommt, und für ihren Mann, der immer mit dem Übel der Schlaflosigkeit kämpft, und ihr wie sich selbst den völligen Verzicht auf vielen Lebensgenuß auferlegen muß, weil seine aufgeregten Nerven ihn nicht ertragen können. Von den Verwandten sind nur Brockdorfs in der Nähe, in der Barerstraße bei der neuen Pinakothek, bei denen ich einige mal war. Tante Thekla und Harsdorfs wohnen draußen in Schwabing, doch mit Pferdebahn- verbindung, in einem reizend gelegenen Hause mitten im Garten; leider soll die Gegend nahe am englischen Garten wegen Feuchtigkeit bedenklich sein; ich war einen Sonntag Nachmittag draußen, fand die Tante wohl, auch Harsdorfs und bei ihnen zum Besuch Christoph Tucher und Frau, sowie Gottlieb Schwarz und Frau, welche der Ausstellung wegen gekommen, wie so viele andere, denen ich in München begegnete, z. B. Henle aus Göttingen nebst Frau7, Tochter und Schwiegersohn, Professor Ullmann in Greifswald.

Sehr interressant waren mir Deine Mittheilungen über die Generalsynode und den Antheil, den Du daran genommen. Ich bin den Versendungen nur theilweise gefolgt, da die Augsburger Allgemeine Zeitung, die ich häufig lese, nicht viel davon brachte, und ich die Kreuzzeitung nicht oft sehe. Ich danke Dir deshalb für Deine Sendung, habe übrigens auch Deine schlagende Replik an den Berliner Magistrat mit Freude sogleich gefunden. Es freut mich sehr, daß Du mit den Ergebnissen der Synode im ganzen so wohl befriedigt bist und an den Versendungen selbst so rüstig eingreifenden Antheil genommen hast, daß Du dadurch wieder mehr Vertrauen auch zu Deiner Arbeitskraft gewonnen hast, daß Dich selbst der Kampf, in den Du eingetreten bist, gestärkt und erfrisch hat.

Nicht minder erfreulich ist, was die persönliche Seite betrifft, daß Schwager und Bruder Adalbert, und der Schwiegersohn Rudel Euch durch die General Synode zugeführt wurden und der letztere Euch auch noch Tochter und Enkel in Kürze zuführen wird.

Ich halte meine Vorlesungen und mein Seminar und arbeite an der Stadt Mainz8 und suche dabei das massenhafte Bücherwesen, welches einem mit neuen Erscheinungen auf dem historischen Gebiet täglich über den Hals kommt, theilweise zu bewältigen oder wenigstens im Auge zu behalten. In meinem Hause ist alles wohl. Sophiechen führt mit Verstand das Hauswesen in Mariechens Abwesenheit, Georg exercirt Recruten, von denen neulich einer befragt, ob er an seinem Wohnort etwas von dem letzten französischen Krieg erlebt oder erfahren habe, antwortete, daß er davon nichts wisse, und weiter befragt, ob er nichts von Napoleon gehört habe und wer denn dieser gewesen sei, zur Antwort gab: „Ein Preuß“! – Mundel besucht die Oberklasse. Gestern Abend besuchten wir einen glänzenden Ball zweier medizinischer Collegen, auf welchem Sophiechen und Georg mit Jugendlust getanzt haben. Luise hat mit ihrer kleinen Kinderschaar viel zu schaffen und findet ihr ganzes Glück in ihrem Hause.

Ich grüße von Herzen die liebe Clara und Clärchen, so wie den Schwiegersohn

Dein Bruder Karl.