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Karl Hegel an Immanuel Hegel, Erlangen, 8. Februar 1880

Lieber Manuel!

Ich habe Dir lange keine Nachricht von uns gegeben. Das ist in der Regel ein Zeichen, daß nicht viel neues zu berichten ist. Ich lebe ziemlich still in der Arbeit, die mich frisch erhält und mir immer neue Aufgaben stellt. Noch manches möchte ich zum Abschluß bringen, weiß aber nicht, ob mir nicht früher das Lebensziel gesteckt ist; doch wie gut ist es, daß wir dies nicht wissen!

Der Winter dauert bei uns unaufhörlich fort, wie man ihn hier in Süddeutschland und weiter südwärts seit 50 Jahren nicht erlebt hat. Der Himmel ist unveränderlich klar und rein und das Thermometer schwankt morgens 8 Uhr nur zwischen 12 und 16 Grad Réaumur unter Null.1 Am 14. November begann der Frost und steigerte sich im December bis 22 Grad Réaumur Kälte; in der ersten Woche des Januar ließ es nach, und es gab zum andern mal einen starken Schneefall, dann begann die große Kälte aufs neue. Unsere Gegend zwischen Nürnberg und Bamberg zeigt in den Temperaturberichten die höchsten Kältegrade, höhere auch als München und kommt Moskau gleich, während in Petersburg mildere Lüfte wehen und Berlin in der Regel 10 Grad wärmer ist als Erlangen. Welche wunderliche klimatische Alteration! Übrigens befinden wir uns dabei doch nicht so übel, und niemals noch konnten sich unsere jungen Leute so oft des gesunden Vergnügens des Eislaufs auf unserem Kanal erfreuen. An jedem Nachmittag ist Sophiechen draußen zu finden und Georg geht auch noch eine Stunde hinaus, wenn er mit dem Exercieren seiner Rekruten fertig ist, wie selbst Marie, wenn sie nicht durch häusliches Wirthschaften verhindert ist. Unsere Damen und Herren sind zahlreich auf dem Platz, und selbst Professoren Frauen im mittleren Alter können nicht widerstehen und beginnen zu laufen, wenn sie es noch nicht können. Da werden allerhand Touren und Tänze auf den Schlittschuhen ausgeführt und von Zeit zu Zeit auch Eisfeste mit Musik gegeben, welche eine zahlreiche Zuschauerschaft anziehen. Daneben gab es Tanzunterhaltungen und Bälle nach alter Art, wie noch gestern in der Irren- anstalt, wo Gesunde und Halbgenesene in Costümen erschienen, unser Sophiechen als Müllerin. Natürlich ist unser Lieutenant überall vorn dran und commandirt die Reihen von denen Damen und Herren auf dem Eise, wie seine Recruten auf dem Exercierplatz.

Meine Tochter Luise kann leider an allen solchen Vergnügungen keinen Theil nehmen, denn sie geht schon wieder mit einem Kinde und erwartet im März das nächste Wochenbett, wie immer, wenn das jüngst geborene zu laufen anfängt. So vergrößert sich ihr Haushalt immer mehr und nimmt ihre Kräfte mehr als gut ist in Anspruch, wenn auch ihr jede Erleichterung durch ausreichende Bedienung zu Theil wird. Meine selige Susanna hat sich darüber schon manche Sorge gemacht.

Von Anna und ihrem Kind, welches nach seiner Pathin Luise genannt wird, sind gute Nachrichten da. Das Kind ist durch eine tüchtige Amme trefflich versorgt und gedeiht zur Freude seiner Eltern. Felix hat uns nach Weihnachten auf einige Tage besucht; der strenge Winter ist ihm zuträglich und im kommenden Frühjahr wird er mit seiner Familie das gemiethete Landhaus in Mittersendling, eine Stunde weit von der Stadt, beziehen.

In Nürnberg war ich am vergangenen Mittwoch Nachmittag, wo ich im Germanischen Museum zu thun hatte. Ich bin lange nicht mehr dort gewesen, hatte mir aber schon längst vorgenommen, einmal den Vetter Theodor und seine Familie auf Schoppershof zu besuchen, um ihnen für Mundels Aufnahme in Simmelsdorf zu danken. Für einen solchen Besuch muß man wegen der Entfernung des Orts ein paar Stunden frei haben und ich bin auch nicht weiter als bis dorthin gekommen.

Theodors Frau Josephine ist angenehm und liebenswürdig und lebt sehr zurückgezogen mit ihren drei kleinen Mädchen, die alle wie ihre Leitheimerischen Tanten fein und zierlich aussehen. Theodor selbst ist ein guter Verwalter der Tucherischen Stiftungen, wie der großen Brauerei, leider aber viel kränklich, am Magen leidend und wenig vom Leben genießend. Der alte Amtmann Schmidt, schon länger pensioniert, ist vor kurzem gestorben, zwei Tage nach seinem Sohn, welcher die Tuchersche Brauerei verwaltete.

Du hast jetzt die Freude, Kinder und Enkel bei Dir zu haben, grüße sie bestens von mir. Sehr leid that mir die betrübende Nachricht von Präsident Bitter. Zwei von meinen alten Freunden in Rostock und Schwerin, Professor Becker und Geheim Rat Flemming, beide in hohem Alter, sind mir vor kurzem in das Jenseits vorangegangen.

Heute las ich die neuesten Culturkampfs-Expectorationen in dem preußischen Landtage; da ist noch keine Ausgleichung abzusehen, so wenig als wie in Baden. Mit sogenannten Principien streiten alle guten Geister vergebens! – Mit herzlichen Grüßen an die liebe Clara, Kinder und Enkel

Dein Bruder Karl.