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Karl Hegel an seine Kinder [in Erlangen], Interlaken, 4. August 1880

Lieben Kinder!

Ihr werdet nicht wissen, wo in der Welt Ihr uns suchen sollt. Endlich sind wir in Interlaken nicht bloß gestern Abend bei vielem Regen, der uns auf dem Thuner See mit Gewitter beglückte, angekommen, sondern auch heute bei schönem Wetter glücklich im ‚Deutschen Hof‘ untergebracht und eingerichtet, nachdem wir gestern wegen mangels an Platz abgewiesen worden und im nahen Wyder Hotel 4 Treppen hoch übernachtet haben. Das Wetter war schlecht schon in Augsburg, nicht zwar am Prüfungstage1 und bei meiner Ankunft vorher, sondern gerade am Sonntag bei Mariechens Ankunft, so daß der mit Vogt2 verabredete Familienspaziergang am Abend unterbleiben mußte. Es regnete auch am Montag während unserer Fahrt nach Lindau, hellte sich aber nachher auf, so daß wir eine sehr schöne Überfahrt über den Bodensee hatten. In Zürich kamen wir zeitig genug an, um uns noch in der Stadt umzusehen; wir logirten im Züricher Hof ganz gut und still bei wenigen Gästen. Gestern früh wieder Regen und so fast den ganzen Tag über; von den hohen Alpen war nichts zu sehen; erst heute Morgen zeigte sich im Sonnenlicht die silberne wenn auch verschleierte Jungfrau, hoch thronend über den Nachbar- und Vorgebirgen. Ein ungeheurer Meschenschwarm von allen Nationen wurde mit uns zugleich hieher befördert und stürzte sich auf die schon reichlich besetzten Hotels, in welche sich täglich zweimal immer neue internationale Ströme ergießen. Ein entsprechender Luxus ist in Hotels, Bazars undsofort ausgebreitet im wunderbaren Gegensatz zu der Alpennatur und ihren ländlichen Bewohnern, die sich vortrefflich auf jegliche Geldschneiderei eingelernt haben und andere Kühe als die einheimischen melken.

Gestern habe ich oft an unseren Mundel gedacht, wie er im Examen schwitze und nun glücklich (?) darüber hinaus sei und sich erleichtert fühle und sich seines Daseins als Maulesel freue! Hoffentlich hören wir bald etwas von ihm. Schreibt nur gleich nach Empfang dieses Briefs: Interlaken, Deutscher Hof (Schweiz).

Meinen besonderen Gruß an Luise! wie befindet sie sich nach ihrer Badekur? und was machen Eugen und die Kinder? Mariechen ist vergnügt und staunt über so viel neues, das sie sieht; sie wird darüber nächstens berichten.

Treulich

Euer Vater Hegel