Mit herzlichem Dank sende ich Dir hiermit das 52ste Heft der Allgemeinen deutschen Biographie zurück; über die Arbeit von Erdmann1 habe ich mich, glaube ich, schon früher ausgesprochen2; ich hatte eine tiefer und weiter greifende Darstellung im Zusammenhange mit der ganzen Kulturgeschichte erwartet. Wenn man freilich bedenkt, daß seit dem Tode des Vaters noch nicht 50 Jahre verflossen sind, und dabei von der inzwischen vollzogenen gewaltigen Veränderung in dem geistigen und öffentlichen Leben des deutschen Volkes überrascht wird, so entsteht bei Manchen die Meinung, daß seine Philosophie vollständig erstorben und in Nichts zerflossen sei, während ihre Wirkungen doch alle Wissenschaften durchdrungen haben. Das Jahr 1880 geht nun auch zu Ende und überläßt dem folgenden Jahr einen reichen Stoff der Gährung; es erinnern mich unsere jetzigen Zustände oft an die dem Jahre 1848 vorhergegangene Periode mit ihrem Geist der Unzufriedenheit und ihren Gegensätzen, welche eine Lösung fordern. Das größte Uebel ist der sich in Versumpfung fortschleppende Kulturkampf, ein fressendes und zer- störendes Gift in einem großen Theile des Landes, bei welchem Viele in der anscheinenden Unmöglichkeit einer friedlichen Ausgleichung dazu gelangen, ein Ende nur von einer großen Katastrophe zu erwarten. Jetzt ist die Judenfrage an der Tagesordnung; ich stehe darin meinem Freunde Stoecker treu zur Seite; mag er auch, im parlamentarischen Kampf noch unerfahren, sich bei einzelnen Aeußerungen Blößen geben, so sind dies doch nur unerhebliche Momente; in der Hauptsache hat er einen wunden Punkt in unserem Volksleben getroffen, unter dessen Druck alle Welt geseufzt hat. Wenn aber der Liberalismus das Christenthum aus dem öffentlichen Leben verdrängt und zu einer Privatsache der einzelnen Individuen gemacht hat, so ist es eine nothwendige Folge und ein wohlverdientes Gericht, daß die Juden durch ihre Begabung für die verschiedensten Gebiete darin zur Herrschaft gelangen, und sie sind sich dessen bewußt als eines Triumphes ihrer früher von den Christen verfolgten und gedemütigten Race und Nation. Wir können uns darin, wie in allen Gebrechen unserer öffentlichen Zustände nur dadurch helfen, daß der christliche Geist in unserem Volk wieder geweckt und herrschen wird. Der deutsche Staat, wenn er bestehen soll, kann nur ein christlicher sein und dieses Bewußtsein muß er haben.
In der vorigen Woche wurden wir durch einen Besuch von Frau Anna Mangelsdorf sehr erfreut; es hatten uns in der letzten Zeit zwei ihrer Stiefsöhne, Hans – Arzt – und Martin, reisender Kaufmann besucht, und durch sie hatten wir sie bitten lassen, uns vor ihrer Rükkehr in die Heimath doch noch hier zu besuchen. Dies hat sie auch noch gethan, konnte freilich nur einen Tag bei uns bleiben. Wir erfreuten uns sehr an ihr, dieser schwer geprüften und in seltenem Maaß liebenswürdigen und harmonisch gebildeten, anmuthigen jungen Frau. Sie ist, Gott sei Dank, von ihrem schweren Leiden völlig wiederhergestellt und ganz frisch und gesund; sie wird jetzt ihren Hausstand in Leipzig auflösen und im Januar nach München, wo sie sich eine eigene Wohnung gemiethet hat und einen selbstständigen Haushalt einrichten wird, übersiedeln. In Leipzig hat sie doch in dem sächsischen Verwandtenkreis nicht fest gewurzelt. Sie bedauert es dabei sehr, daß sie, da Kleins dorthin gezogen sind, ihnen nun aus dem Weg geht; es wäre dies doch eine eigene Verwandtschaft gewesen. Sie hält es vornehmlich für ihre Pflicht, mit der Mutter deren letzte Lebensjahre zu verleben. Ihre Stiefsöhne haben auch Alle Leipzig verlassen.
Wir wünschen von Herzen, daß Kleins sich in Leipzig gefallen und seine Gesundheit sich dort befestigen möge. Die Nähe von Berlin wird sie, wie wir hoffen, auch bewegen, uns einmal hier zu besuchen, und wenn Du im nächsten Frühjahr wieder Deine Kommissionsreise3 nach Berlin machen wirst, könntest Du Deine Sophie in Leipzig abholen und mitbringen, wie Du uns bereits versprochen hast. Ich bin davon überrascht, daß Dein Mundel schon vom Gymnasium abgegangen und Student geworden, da er erst 17 Jahr alt ist; er muß also sich fleißig vorwärts gebracht haben. Du wirst ihn gewiß nicht lange in Deinem Hause festhalten wollen; was studiert er eigentlich und welche andere Universität hast Du für ihn in Aussicht genommen? Leipzig wird sich in vieler Beziehung sehr empfehlen; doch dürfte auch Berlin in Betracht kommen; vielleicht Beides; wir würden uns sehr freuen, wenn er zu uns käme. Willy will zu Weihnachten zu uns kommen; er ist kürzlich auf seinen Antrag zur allgemeinen Staatsverwaltung übernommen und zum Regierungs-Assessor ernannt worden; vorläufig bleibt er noch bei der bischöflichen Verwaltung in Paderborn; ich wünsche aber doch, daß er bald zu einer Regierung versetzt werde, um sich noch weiter in der Welt umzusehen. Seit Ende Oktober ist die ganze Waldenburger Familie hier und hat eine meublirte Wohnung in der Linkstraße bezogen; sie werden für die Dauer des Landtags, also bis in den Februar hier bleiben. Marie ist, Gott sei Dank, recht wohl und frisch; Rudel bewegt sich mit jugendlichem Eifer und Interesse im parlamentarischen Treiben; die drei Kinder sind allerliebst und man kann herzliche Freude an ihnen haben.
Clara und Klärchen grüßen bestens. Mit herzlichen Wünschen zum Weihnachtsfest Dein Bruder Immanuel