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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 11. Juni 1881

Lieber Karl!

Zu Deinem Geburtstag1 komme ich diesmal sehr verspätet; nichts desto weniger sage ich Dir dazu noch meine besten Glückwünsche mit herzlicher Freude, daß Du das neue Lebensjahr in rüstiger Gesundheit hast antreten können. Möge Gott, der Herr Dich auch in Deinem neuen Jahr mit Kindern und Enkeln gnädig behüten und Dir die Freudigkeit in Deinem Beruf erhalten! Wir haben auf Dein Wohlsein in Pessin angestoßen, wo wir bei unseren Freunden, von Knoblauch im Pfingstfest2 verweilten. Ich hatte gehofft, dort auch noch eine Stunde Muße zum Briefschreiben zu gewinnen; in dem bewegten Familienkreise und bei dem oftmaligen Schmausen war aber dazu keine Zeit übrig. Wir fuhren am Sonnabend hin; Pessin liegt hinter Nauen im Havelland; eine fruchtbare Gegend mit stattlichen Heerden auf den Wiesen und schöne Laubwaldungen liefern trefflichen Wildbraten. Curt von Knoblauch, Ritterschaftsrath, ein Riese von gewaltigem Umfang, tüchtig, gescheut und politisch, wie kirchlich ein fester Konservativer ohne bornirte Vorurtheile. Das Haus ist geräumig und kann, wie diesmal viele Gäste beherbergen; ist aber alt und schief, wie die Väter es bewohnt haben, doch sehr gemüthlich; das Leben darin nicht üppig oder elegant, aber gediegen und wuchtig. Außer uns waren zum Besuch noch sein Schwager General von Kleist und seine Schwägerin Frau von Zieten, beide mit ihren Familien, so daß täglich 26 Personen zu Tisch saßen. Am Mittwoch3 kehrten wir Morgens zurük und ich fand viel Arbeit vor. In Pessin hatten wir sehr schönes Wetter und im Garten blühten alle Sträucher; es kam dann der sehr ersehnte Regen und heute ist es so kalt, daß wir in unseren Zimmern haben heizen müssen.

Von unserem lieben Klärchen in Göggingen erhalten wir fleißig Berichte, die uns ebenso erfreuen, als beruhigen; sie hält sich recht wacker und hat sich merkwürdig gut in das selbständige Leben gefunden. Sie trägt jetzt den Apparat und muß sich auch den Manipulationen der Kur unterwerfen; doch erträgt sie auch dies Alles mit Geduld ohne besondere Klage. Sie hat eine gute Lebensschule durchzumachen, die ihr auch im Allgemeinen von Nutzen sein wird. – Willy hat uns leider hier nicht besuchen können, obwohl er zu einer längeren militärischen Uebung hierher kommandirt war; er ist aber von seinem Präsidium als zur Zeit unentbehrlich reklamirt worden und hat nun die Pfingstfeiertage zu einem Besuch in Waldenburg benutzt. Hier verweilt jetzt zu einem mehrwöchentlichen Besuch auch Mutter Bitter.

Ich lebe nun in meinem Hause ohne Kinder; doch erfreuen wir uns noch der Gesellschaft meines Schwagers Adalbert, der zum Reichstag wieder hat herkommen müssen. Seine Besuche in der Eigenschaft als Abgeordneter werden aber nun ein Ende nehmen, da sein Statthalter Manteuffel es ihm zur Pflicht gemacht hat, auf die Wiederwahl zu verzichten. Es ist auch in der That sein Amt mit der Theilnahme am Reichstag unvereinbar.

In der Woche vor Pfingsten machte ich eine Dienstreise nach Schwedt a/O, wo ich der Schlußkonferenz einer vom General-Super-Intendenten Dr. Kögel geleiteten General-Kirchen-Visitation beiwohnte. Die Stadt liegt sehr freundlich an der Oder und ist als alte markgräfliche Residenz mit einem großen Schloß, schönem Garten und stattlichen Alleen ausgestattet. Die Visitation war auch sehr befriedigend ausgefallen und ergab manche erwünschte Anregung. Kögel widmet sich diesen Visitationen mit großem Eifer und besitzt dazu auch die schönsten und reichsten Gaben. Die nicht unerheblichen Kosten – es muß eine Kommission von 6 Mitgliedern verpflegt und mit Fuhren ausgestattet werden – liefern angesehene Kirchenpatrone der Diözese.

An kirchlicher Bewegung fehlt es hier auch nicht; Kreissynoden mit häufigen Skandalen, Stadtsynode zur Bewilligung einer Kirchensteuer für Berlin; deutscher Protestanten-Tag zur Wahrung der Freiheit und Bekämpfung des Obskurantismus und in nächster Woche lutherische Pastoral-Konferenz mit zahlreichen Festen im Kampf mit dem Liberalismus – also eine reiche Abwechslung! Möge ein Jeder wissen, wo er steht, und wenn er festen Grund hat, darauf auch – wie man jetzt zu sagen pflegt – unentwegt stehen bleiben!

Herzliche Grüße von Clara an Dich und Deine lieben Kinder.

Dein Bruder Immanuel