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Karl Hegel an Anna Klein, geb. Hegel, Erlangen, 17. Juli 1881

Liebe Anna!

Dein Brief1 enthielt Erfreuliches und Betrübendes in einem gewissen Gleichgewicht, doch ohne das eine gegen das andre aufzuheben. Recht sehr hätte ich Felix gewünscht, daß es ihm möglich gewesen wäre, die Aufgabe des Semesters zu Ende zu bringen! Jetzt hilft nichts als Geduld! Der Vater ist der Kreuzschnabel für den Sohn: erinnerst Du Dich der Geschichte von dem Philosophen Fischer2? Wem von beiden aber wird Borkum besser bekommen? Ich gestehe, daß ich Euch lieber in Colberg sehen würde: doch enthalte ich mich des Einredens und darum auch meiner guten Gründe. Wohin mein Bruder und Clara reisen oder gereist sind, weiß ich bis heute noch nicht – nur daß sie bei Nacht hier durchkommen, wo ich sie nicht sehe. Clara hat sich bei aller Welt nach dem angenehmsten Ort erkundigt und immer wieder Anderes gehört. Ich empfahl Tegernsee, wogegen man ihr aber ein Vorurtheil beigebracht hatte. Tegernsee muß viel für sich haben, daß Leute wie Gerlachs, Thierschs, die überallhin gehen könnten und schon sonst viel erprobt haben, doch immer darauf zurückkommen.

Also Sophiechen ist munter und tanzt immer noch trotz der Hitze! Auch hier gibt es jetzt Tanzvergnügen und Gartenfeste genug, wo immer dieselben Mädchen und gewöhnlich auch unser Georg dabei sind. Mich wundert nur, daß man sich nicht langweilig wird. Daß Sophiechen so viel mit dem Zahnarzt zu thun und ihm zu verdienen gegeben hat, ist mir gar nicht lieb: wenn es nur damit für immer abgethan wäre! Sie besitzt noch 25 Mark, schreibst Du: damit weiß ich aber nicht, wieviel sie noch braucht, was nöthiger ist zu wissen, damit ich das Fehlende schicke. Dies also laß mich seiner Zeit wissen, damit sie keine Schulden bei Euch hinterlasse. Gern erfülle ich ihren Hauptwunsch zum Geburtstag3, daß sie sich photographieren lasse, unter der Bedingung, daß es gut ausfalle und nicht bloß ein Kopf, sondern mindestens ein Brustbild sei.

Georg rüstet sich endlich zur Abreise. Er war kaum länger zu halten, nachdem er einmal schon vom 1. Juli an seinen Urlaub genommen und ihn antreten sollte. Doch habe ich ihm deutlich bewiesen, daß das Reisegeld, das ich ihm bestimmt, nicht auf so lange ausreichen würde: außerdem sollte er die Antwort von seinem Freund Steinbruch abwarten. Diese ist endlich gekommen, nachdem er selbst verreist war, und brachte eine freundliche Einladung zu ihm nach Schwarzburg, die natürlich hoch erwünscht war. Er wird also morgen von hier abgehen, unterwegs Coburg (wo wir beide das furchtbare Hagelwetter erlebten!) und Eisenach besehen, und dann 8 Tage in Schwarzburg bleiben und Ende des Monats bei Euch eintreffen. Wie Ihr es mit ihm halten wollt, steht bei Euch, nur daß er Euch nicht beschwerlich falle, zumal wenn Felix krank ist und zuletzt noch die Eltern dazu kommen. –

Ich habe bei der afrikanischen Hitze der letzten Wochen und Tage mich gut gehalten, vielleicht auch durch das Gegengewicht der mancherlei Spannungen, die keine Erschlaffung aufkommen ließen. Gestern besonders war ein aufregender Tag: Vormittags war die Prorectoratswahl und Abends präsidirte ich im Redutensaal in einer großen Volksversammlung, in der unser Reichstagscandidat, Prof. Adolf Wagner aus Berlin, die Hauptrede hielt. Beides gäbe Stoff genug zu einer langen interessanten Erzählung. Doch ich will mich kurz fassen und Ihr könnt Euch das Übrige hinzudenken. Bei der Prorectoratswahl hat es Rosenthal nicht über sich vermocht freiwillig zu resigniren, was bei weitem das klügste wie Ehrenvollste gewesen wäre. So wollte ihn auch die medicinische Fakultät nicht fallen lassen und machte seine Sache zur ihrigen.

Die Folge davon war, daß die die ihn nicht wählen wollten, auch die Mediciner übergehen mußten, und das Resultat, daß mit bedeutender Majorität, 26 Stimmen gegen 15 – unser guter Freund Eugen Lommel, eine allgemein beliebte Persönlichkeit, zum Prorector des nächsten Jahres gewählt worden ist! Also unsre Luise wird Frau Prorectorin, ob sie will oder nicht. Hier schalte ich ein, daß die Hitze sie recht mitgenommen hat: dafür steht ihr aber Kohlgrub als Heilbad in Aussicht, wo bereits ein Zimmer im Kurhaus für Ende dieses Monats für sie bestellt ist. Eugen wird später dorthin nachkommen und sehen, was er weiter treibt.

Vielmehr als die Prorectorats- hat mir die Reichstagswahl4 zu schaffen gemacht, wiewohl Lueder und Filehne den Hauptstrang dabei gezogen haben: Filehne ist der vortreffliche und geschickteste Agent, sorgt für alles und besorgt alles, agitirt bei den Bürgern und in der Presse mit Lueder zusammen; mir bleibt nur die Ehrenrepräsentation nach außen und die Betheiligung bei der Hauptaction. Es wäre eine lange Geschichte zu erzählen, wie wir endlich zu unserem Candidaten gekommen sind und ihn hierher gebracht haben. Daß die Wahl eine höchste geschickte war, wurde sogleich von allen Seiten zugestanden. Denn sie versprach uns den Entschluß der conservativen Partei, die sicher über 3 – 4000 Stimmen verfügt. Und siehe da! Sie hat sich nach unserer Proclamierung von Adolf Wagner entschlossen, ihren bereits denominirten Kandidaten von Fechenbach, fallen zu lassen und mit uns für Wagner zusammen zuhalten. Und nun die gestrige Rede! Ein glänzendes Bravourstück, um so mehr als Wagner in der furchtbaren Hitze die Nacht vorher durchgefahren war. Nachmittags bezeichneten wir ihm die Hauptpunkte, über die er sprechen solle. Der große Saal war trotz der Hitze gedrängt voll. Alles erwartete mit Spannung unseren Candidaten. Seine Rede, beinahe aus dem Stegreif ganz frei gehalten war ein oratorisches Meisterstück, die lichtvollste Darlegung der gegenwärtigen politischen und volkswirtschaftlichen Probleme, interessant und spannend vom Anfang bis zum Ende eine Stunde lang, nie fehlend im treffenden Ausdruck, belehrend und überzeugend – von durchschlagendem Erfolg. Ich hatte die größte Befriedigung. Heute ist er noch in Begleitung einer Anzahl der unserigen nach einem ländlichen Ort, Rostall (über Nürnberg hinaus) gegangen, um auch zu den Bauern zu reden. Ich hätte ihn gern auch dort gehört, scheute mich aber vor der Strapaze bei der Hitze und wollte überdies Georg für seine Reise instruiren. Ich gehe jetzt zu Lommels und dann zu Lueder, um Wagner und seine Begleitung, wenn sie zurückkommen, zu empfangen.

Mein Brief ist lang genug geworden. Ich wünsche Felix besseres Befinden und grüße Euch von Herzen

Carl Hegel