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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 10. Oktober 1881

Lieber Karl!

Wenn ich Deinen lieben Brief vom 23sten vorigen Monats1 erst heute beantworte, so sage ich Dir doch nicht minder für Deine freundlichen Wünsche zu meinem Geburtstag2 meinen herzlichen wärmsten Dank. Der Mensch hat viel zu wünschen, und doch noch viel mehr zu danken, und dazu finde ich mich auch dringend aufgefordert, wenn ich auf die vergangenen Jahre zurückblicke. Nun geht es immer rascher dem Ziele des Lebens entgegen und gilt es, sich darauf ernstlich vorzubereiten. Es nehmen auch, wenn auch langsam, aber doch sicher fortschreitend die Schwächen des Leibes und der geistigen Kräfte zu, und mahnen daran, daß auch der Thätigkeit im Beruf eine unvermeidliche Grenze gesetzt ist. Es gewährt diese Erkenntniß auch eine gewisse Erleichterung; bei manchen Kämpfen der Zeit und Fragen der Zukunft, sage ich mir, daß ich ihre Lösung nicht mehr erleben werde, und es bestärkt mich dies in der Gelassenheit bei meiner persönlichen Betheiligung. Wir haben auch in unserem Leben einen so mannigfachen und merkwürdigen Wechsel der Zustände und Personen erfahren, daß wir uns wohl sagen können, daß auch die leidenschaftlichen Spannungen in der Gegenwart einen nicht leicht zu erwartenden, überraschenden Ausgang nehmen werden, und wenn etwa eine pessimistische Stimmung uns ergreifen will, so wird auch sie durch die Ueberzeugung überwunden, daß Gott schließlich im Regiment sitzt, und der christliche Glaube und fest gegründete Wahrheiten bindet, welche durch die Thorheiten der Menschen nicht umgestoßen werden können, vielmehr alle Zeiten überdauern. Die Welt bietet gegenwärtig in der That ein Schauspiel großer Gährung und Zerrüttung; ich werde oft an die Zeit vor 1848 erinnert, und möchte glauben, daß wir auch jetzt einer großartigen Krisis entgegen gehen. Der Liberalismus, der damals die treibende Kraft war, hat sich verbraucht und überlebt, und uns manche Schäden zurück gelassen, unter denen wir schwer zu leiden haben. Jetzt ist der Sozialismus an der Tagesordnung; wer will aber sagen, welche Entwicklung er nehmen und zu welchen Gestaltungen er führen werde? Es geht dies über mein Verständniß, und ich beruhige mich gerne mit der Betrachtung, daß ich nicht dafür zu sorgen habe und auch wahrscheinlich nicht davon erleben werde; deswegen dürfen wir aber nicht müßige kontemplative Zuschauer in den Kämpfen der Gegenwart sein, sondern es ist unvermeidlich eine feste Partheistellung in der Gemeinschaft mit unseren Freunden einzunehmen, wobei im Einzelnen die persönlichen Ansichten zurükstehen müssen, und auch wenn unsere Freunde gelegentlich Dummheiten machen, dürfen wir diß nicht verleugnen, sondern haben die Pflicht, ihnen möglichst herauszuhelfen. An der jetzigen Wahlbewegung3 nehme ich übrigens nicht aktiven Antheil; ich habe dazu keine Zeit und muß mich auf die kirchlichen Verhältnisse beschränken. In Berlin ist Stöcker der Mittelpunkt des Kampfes; er hat unstreitig den fest organisirten Ring des Fortschritts, und ebenso die kompakten Massen des Sozialismus erschüttert, aber ich bezweifle doch, daß es gelingen werde, seine Wahl durchzusetzen. Sollte es geschehen, so wäre es ein höchst merkwürdiger und folgenreicher Sieg.

Unmittelbar nach meinem Geburtstag begab ich mich auf Reisen; ich war zuerst in Brandenburg, wo der dortige neue Ober-Dompfarrer Golling, ein trefflicher Geistlicher vom General-Superintendenten D. Koegel als Superintendent eingeführt wurde; es war bei schönem Wetter eine würdige Feier im schönen Dom; hernach natürlich Festessen. Es war mir interessant Brandenburg und seinen Dom wiederzusehen, nachdem ich diese Stätte vor 33 Jahren bei der Verlegung der revolutionären Nationalversammlung4 besucht und dort denkwürdige acht Tage verlebt hatte. Darnach war ich drei Tage in Halle zur Bibelkonferenz5, welche einen recht befriedigenden Verlauf nahm. Es wurde von den Vertretern der bibeldrukenden deutschen Bibelgesellschaften mit der Text-Revisions-Kommission, welche ihre vieljährige schwierige Arbeit der Revision der Lutherbibel jetzt zum vorläufigen Abschluß gebracht hat, in gemeinschaftlicher Versammlung über den Druck und die von der Cansteinschen Bibelanstalt übernommenen Herausgabe des Entwurfs der revidierten Bibel berathen; wir hatten uns namentlich über die Rechtschreibung, die lutherschen Sprachformen, Parallelstellen, Kapitelüberschriften und dergleichen mehr zu verständigen. Die sprachliche Seite hat Dr. Frommann in Nürnberg, und die anderen Aufgaben Professor Kübel in Tübingen zu besorgen. Der erstere Punkt war der schwierigere in der Verständigung; glüklicher Weise war Frommann gekommen und seine würdige Persönlichkeit, so wie sein eminentes Verständniß der Luthersprache trug wesentlich dazu bei, einen Ausgleich mit den weitgehenden Forderungen der Württemberger im Interesse der modernen Sprache zu Stande zu bringen; er zeigte auch eine erwünschte Nachgiebigkeit, mehr als wir meinten, hoffen zu können. Ich fand in Halle bei meinem alten Freunde, dem Präsidenten Rothe die liebevollste Aufnahme.

Unmittelbar nach den Wahlen wird die Provinzialsynode zusammentreten; ich erwarte im Ganzen einen friedlichen Verlauf.

Kleins werden nun doch auch von Borkum heimgekehrt sein; wir wünschen sehr von Dir zu erfahren, ob es ihnen gut bekommen ist. Hoffentlich bist auch Du von München aus der historischen Kommission befriedigt zurükgekehrt.6

Clara und Klärchen, welche sich Beide ganz wohl befinden, tragen mir herzliche Grüße für Dich und Deine Kinder auf. Willy besuchte uns zu meinem Geburtstag auf zwei Tage; er ist bei reichlicher Beschäftigung in Posen ganz zufrieden. Mit treuen Wünschen Dein Bruder Immanuel