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Karl Hegel an Anna Klein, geb. Hegel, Erlangen, 30. Oktober 1881

Meine liebe Anna!

Ich erhielt Deinen lieben Brief vom 17. dieses Monats1 in München, wo ich mit den Prüfungen sehr beschäftigt war2, sonst aber viel Interessantes erlebte. Mein Aufenthalt währte 14 Tage und in diesem kurzen Zeitraum ist so viel Verkehr mit Menschen und Anschauung von neuen Dingen eingeschlossen, daß ich nicht fertig würde, in einem kurzen Briefe davon zu erzählen. Mit meinen Prüfungscollegen aus Würzburg und Erlangen war ich in der Regel mittags zusammen, abends traf ich oft im Museum Freunde und Bekannte von München; 5 Mal war ich im Theater, wo ich unter anderem eine recht gelungene Aufführung des Rattenfängers von Hameln, Oper von Neßler, sah; ich war in der Wahlversammlung in den Centralsälen, wo Schauß präsidirte, Schlör und Custermann ihre Candidatenreden hielten; ich besuchte die Verwandten in Schwabing, wo mich die liebenswürdige Anna Mangelsdorf am meisten gewann; und war eines Sonntags Mittag bei Brockdorfs. Ich sah das neuste Bild von Piloty, die klugen und thörichten Jungfrauen und verglich damit ein älteres niederländisches, das im Kunstverein ausgestellt war; ich sah den Guß der Germania vom Denkmal auf dem Niederwald, so weit er fertig ist, und die Modelle im Gießhause; ich war Gast bei einer merkwürdigen Kindtaufe3 bei Prof. Bernays in auserwählter Gesellschaft, wo der Gastgeber und glückliche Vater schließlich den großen Monolog aus Faust recitirte; Decan Buchrucker taufte, die viel genannte Fürstin Pauline Metternich und der Herzog von Meiningen waren abwesende Pathen. Ich war in der zwanglosen Gesellschaft mit Bursian bei Kappler und mit den Prüfungscollegen bei Humpelmaier, wo es altes Bier gab und ich für 75 Pfennig ein vortreffliches gebackenes halbes Huhn verzehrte.

Ich spazierte eines Nachmittags zwei Stunden mit Gordan im englischen Garten und hörte so viel von höherer Mathematik, daß ich nicht mehr wußte wo ich war; Gordan war entzückt über ein mathematisches Genie, namens Stroh4, das er unter seinen Examinanden gefunden. Doch ich muß aufhören mit meiner Erzählung, um noch etwas Raum für Erlangen und für Dich übrig zu behalten. In Erlangen kam ich am Dienstag an, zwei Tage vor dem Wahltag5, Donnerstag, an welchem Sophiechen glücklich eintraf. Die bewegte Zeit der Wahlagitationen hatte ich versäumt und Wagner weder hier noch in Fürth gehört. Doch habe ich seine vorzügliche Begabung als Redner und seine vollkommene Sachkenntniß schon bei seinem ersten Hiersein bewundert.6 Jedermann der ihn und Stauffenberg gehört hat, wird zugestehen müssen, daß er der ungleich bedeutendere Mann ist. Er ist aufs höchste zu beklagen, daß er hier und in anderen Wahlkreisen gegen linksstehende Liberale durchgefallen ist: er wäre wie kein anderer der Mann, um in der parlamentarischen Debatte den Herren Eugen Richter, Lasker, Virchow und wie sie alle heißen die Spitze zu bieten. Das Tabaksmonopol, für das er eintrat, hat ihm bei den Bauern viel geschadet; bei den räsonnirenden Spießbürgern in Erlangen und Fürth gilt am meisten, wer die liberale Fahne der Opposition aufsteckt. Rosenthal machte für Stauffenberg den Führer, ihm folgten die anderen Mediciner und der große Haufen. Sein öffentliches Auftreten war höchst unverschämt und hat von Seiten Lüders eine eclatante Erwiderung gefunden. Wir Professoren sind völlig auseinander und der Riß unheilbar. Doch will ich von diesen Dingen nicht weiter reden.

Es freut mich, liebe Anna, daß Du Dein Heimwesen in Leipzig mit Befriedigung wiedergefunden hast und glücklich bist über Deine kleine Mädi. Recht sehr bedaure ich Dein fatales Ohrensausen, welches offenbar die Folge des langen Aufenthalts in der aufregenden Seeluft, zumal bei stürmischem Wind und Wetter, gewesen ist. Du brauchst milde Luft und äußere Beruhigung, hoffentlich wird sie Dir in Leipzig zu theil werden. Sophiechen erwartet ihren Hut und wird Dir dann schreiben. Ich grüße Deinen Mann und wünsche ihm dauernde gute Nachwirkung von Borkum.

Treulich
Dein Vater
Carl Hegel